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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
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Schatten niesen. Zweimal hintereinander. Laut wie ein Mann, meckernd wie eine Ziege.
    Der Spuk war vorbei, die Flammen des Zorns erstarben. Wohlerzogen entschuldigte sich ein artiger kleiner Junge in einem selbst gestrickten grünen Pullover mit Zopfmuster. Klein-David konnte seine Schuhe noch nicht richtig zubinden, und er war wieder im Kindergarten bei Nanny Mildred. Sie hatte einen lila Wollrock und einen dicken grauen Zopf. Die von den jungen Müttern als Pädagogin verehrte Erzieherin pflegte jedes Kind, das beim Niesen und Husten nicht spontan »Entschuldigung« trompetete, am Genick zu packen und in die Ecke zu befördern. David schüttelte sich, als sich seine Nase erinnerte. Nanny Mildred roch selbst in Nairobi noch nach Mottenpulver und desinfizierender Seife. Marke Lifebuoy. Quadratisch und rosa.
    »So wie der Fußboden hier«, rügte der Reisende.
    Auf dem Schreibtisch standen zwei Gläser und eine mit Wasser gefüllte Karaffe. Sie waren ihm zuvor nicht aufgefallen. Eine Welle von Sehnsucht wallte auf. Auf einen Schlag erwärmte die Wehmut Kopf und Glieder, machte benommen, auch ein wenig unglücklich, auf alle Fälle schwindlig und unsicher. David, vor zwei Stunden in Afrika gelandet, aber noch nicht angekommen, kehrte zurück nach Hause. Er breitete die Arme aus und wusste nicht, was er tat und nach wem ihm verlangte. Es war Freitagabend. Auf dem gedeckten Tisch stand eine mit Wein gefüllte Kristallkaraffe. Sie war der früheste Zauber seiner Kinderjahre, ein rot funkelndes Prunkstück, das immer zwischen den beiden schlanken Silberleuchtern mit den Sabbatkerzen stand. Sobald der Wein vom Vater gesegnet und in einen silbernen Becher ausgeschenkt war, der in der Tischrunde herumgereicht wurde, leckte sich Granny Gram Gramps die Lippen. Sie pflegte darauf hinzuweisen, dass die Karaffe eigentlich ihr gehörte und das Hochzeitsgeschenk ihrer Tante Friederike gewesen war. Einst war die Flasche von Cham in Bayern nach Londiani in Kenia und zwölf Jahre später nach London gereist. Mrs Freund, für die fremde Sprachen zu den Herausforderungen gehörten, die den Menschen mehr Kraft nehmen als jede Anstrengung des Körpers, war eine ebenso genaue wie auskunftsfreudige Chronistin. Sie ließ keine Ortsangaben und nie eine Zahl aus, die zum Verständnis einer Geschichte dienten.
    »Bavaria«, übersetzte diese akkurate Großmutter bereitwillig, obwohl das sperrige Wort ihr den Hals aufkratzte. Ihr war sehr daran gelegen, dass der Enkel, der von der Geographie der Welt nur die der heimischen Insel und die des Heiligen Landes zu Zeiten von Moses kannte, sie verstand.
    War David gut gelaunt und wollte er die fürsorgliche Besitzerin der Karaffe zum Lachen bringen, versuchte er »Cham« und unmittelbar darauf »Bayern« zu sagen. Meistens kam bei der sprachlichen Hommage an die Seniorin der Tafel jedoch nur der Zungenstolperer »Chambayern« heraus. Granny, auch in den Repertoirevorstellungen noch so bewegt wie vor Jahren bei der Premiere, nannte ihren rot angelaufenen Enkelsohn »Spatzl«, was seine Mutter nicht ausstehen konnte. Die biss sich, wenn das Missliebige geschah, auf die Lippen und starrte an die Zimmerdecke, denn sie und nicht die Generation nach ihr empfand es als Belastung, in der Hauptstadt des britischen Empire fortwährend an den Umstand erinnert zu werden, dass der eigene Lebensbaum deutsche Wurzeln hatte.
    »Cham«, sagte sie oft trotzig, und nicht für tausend Pfund hätte sie gefragt, weshalb Mann und Mutter einander zulächelten. Liesel Procter geborene Freund sprach nach fünfunddreißig Jahren Leben und einer in Kenia verlebten Schulzeit ihren Geburtsort nämlich immer noch mit einem bayerischen Zungenschlag aus.
    Zum Sabbat und ebenso an den anderen Feiertagen wurde Großmutters Karaffe mit einem Süßwein gefüllt, den die Kinder schon hatten trinken dürfen, als sie bei Tisch noch auf Kissen hatten sitzen müssen, um an ihren Teller zu kommen. Davids Mutter behauptete aber noch im sechzehnten Lebensjahr ihrer Tochter, sie würde den Wein nicht mit Wasser verdünnen. Nach jedem solcher Hausfrauenschwüre zwinkerte der Vater männerjovial zu David hinüber und sagte: »Mummy braucht sich absolut nicht zu schämen. In der Bibel haben noch ganz andere Leute den Wein gepanscht.«
    »Aber im Neuen Testament«, präzisierte der Sohn und zwinkerte zurück.
    Als die Bilder, die er heraufbeschworen hatte, ihn immer energischer bedrängten, legte David beide Hände so entschlossen um den Flaschenhals,
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