Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
Grimasse, und David wäre erschrocken gewesen, hätte er sein blasses Gesicht mit den roten Flecken auf Wangen und Stirn und die zusammengekniffenen kleinen Augen gesehen. Zudem war ihm schwindlig. Die bei Kindergeburtstagen beliebten Spiele fielen ihm ein und dass er sie immer albern gefunden hatte - die Kleinen liefen so lange im Kreis herum, bis sie umfielen und hechelnd auf dem Rasen liegen blieben. Davids Kopf schmerzte, denn auch seine Gedanken begannen, einander zu jagen. Die wirbelten herum wie Schneeflocken in Märchenfilmen. Er zählte alle ihm bekannten Kinderkrankheiten auf, überlegte, welche ihm erspart geblieben waren und auf welche er - zum passenden Zeitpunkt, natürlich! - noch hoffen konnte. Scharlach fiel ihm ein, indes sofort auch, dass er nicht einen einzigen Menschen auf der Welt kannte, der je an Scharlach erkrankt war.
    Nicht ohne Wehmut erinnerte er sich an die leichte Lungenentzündung und den schweren Fall von Masern, die ihm jeden Tag Götterspeise mit Vanillesauce und die uneingeschränkte Aufmerksamkeit von Mutter und Großmutter beschert hatten. David war gerade dabei, sich die Einzelheiten seiner Blinddarmoperation ins Gedächtnis zu rufen, als ihm bewusst wurde, dass es ihn drängte, sich durch Würgen Erleichterung zu verschaffen. Genau wie im Flugzeug. Er versuchte, ruhig zu atmen, wie im Juni vor zwei Jahren, als er beim Kricket den Ball in den Rücken bekommen hatte und der miese alte Cripps ganz aufgeregt und besorgt gewesen war. Zwischen dem dritten und vierten Atemzug glaubte David gar, das Gesicht des verhassten Sportlehrers zu sehen, doch dann begriff er, dass sein Würgen nicht Teil der Vergangenheit, sondern ein ganz übles Stück Gegenwart war.
    Als Einziger in der Maschine hatte David den Flug nicht gut und die Landung absolut nicht vertragen. Das verübelte er seinem Körper immer noch. Seine Mutter hatte ihn wie ein Kleinkind behandelt und ihm immerzu das braune Fläschchen mit den Tropfen unter die Nase gehalten, das sonst bei den Mahlzeiten am Platz der Großmutter stand. Das Medikament roch nach allen Dingen, die David zuwider waren. Ab dem Moment des Abflugs in London hatte er sich nach festem Boden unter den Füßen gesehnt, doch nun dämmerte es ihm erstmals, dass das Schicksal weder Uhr noch Kalender hat und Wünsche meistens zur falschen Zeit erfüllt werden. Jedenfalls hatte der Reisende aus London kein bisschen Freude am Fußboden des New Stanley Hotel in Nairobi. Missgelaunt starrte er die neue blaue Reisetasche an. Der Mann an der Gepäckkontrolle hatte sie mit drei riesigen weißen Kreidekreuzen beschmiert. Eins sah aus wie ein Galgen. David gab der Tasche einen Tritt und ballte die Faust. Er zuckte mit den Schultern, denn er fand seine Faust zu klein und total lächerlich. Alle sagten, er hätte Mädchenhände. Eine Zeit lang beschäftigte er sich mit der Frage, weshalb er so war, wie er war. Er erkannte, dass er selten so umgänglich, fröhlich und unbeschwert wie andere Teenager war, sondern meistens zu kritisch und zu oft unzufrieden. Auch neigte er dazu, undankbar zu sein. Seine Eltern monierten das nie, David hatte jedoch oft das Gefühl, sie hätten es gern getan.
    Wie üblich, war er viel zu pessimistisch. Liesel und Emil Procter waren absolut überzeugt, dass die Glücksgöttin sie mit den besten, schönsten und klügsten Kindern der Welt bedacht hatte. Vor allem waren sie entschlossen, allzeit verständnisvolle und geduldige Eltern zu sein und das Leben so wenig wie möglich nur aus der eigenen Perspektive zu sehen. So werteten sie den außergewöhnlich gut entwickelten Hang ihres Sohnes zur Skepsis als eine natürliche Entwicklungsstufe im Leben eines männlichen Wesens. Rabbiner Samuel White, der diesen frühen Skeptiker zur Bar-mitzwa vorbereitet hatte, sah die Dinge noch rosiger. Für ihn war auch der kleinste Beweis von geistiger Regsamkeit bei einem dreizehnjährigen Jungen ein Geschenk, für das dem Schöpfer nicht genug zu danken sei. Dies ließ er David häufig wissen, womit er nicht nur dessen Selbstbewusstsein stärkte, sondern ihm auch eine Lebensrichtung anwies, von der vorerst weder der Junge noch seine Eltern etwas ahnten.
    Nirgendwo anders bekam David solch uneingeschränkte Zustimmung. Seine Mitschüler fanden ihn streberhaft, unsportlich und skurril - mit Ausnahme von Nat Glueck, der ein schwaches Herz hatte und nicht mitturnen durfte. Auch Nat war von Rabbi White zur Barmitzwa vorbereitet worden. Seitdem waren die beiden Jungen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher