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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
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Freunde, genierten sich jedoch meistens, das Wort zu gebrauchen. Die Lehrer von Pinewood School, an deren Achtung den Schülern am meisten gelegen war, setzten auf die Ideale aus der Glanzzeit britischer Gentlemen. Sie hatten in Oxford studiert und waren im Krieg gewesen, interessierten sich für Pferde, Jagd und Wassersport und bedachten nur solche Jungen mit ihrer Aufmerksamkeit, deren sportliche Leistungen der Schule zur Ehre gereichten. David stuften sie als zu ernst für sein Alter und körperlich unterentwickelt ein. Zudem war er nach Einschätzung der pädagogischen Mehrheit ein Individualist, der sich keine Gedanken machte, wie er der Gemeinschaft von Nutzen sein könnte. Obwohl der Mathematiklehrer in Glaubensdingen heikel war, erkannte er als Einziger Davids Intelligenz und Beharrungsvermögen, und nur in Ausnahmefällen ließ er den Jungen fühlen, dass er Schüler lästig fand, die mehr zu empfangen begehrten, als ein Lehrer zu geben bereit war. In dieser Beziehung war David allerdings bemerkenswert unempfindlich. Sein Wunsch zu gefallen stand in keiner Relation zu seiner geistigen Regsamkeit und Wissbegierde. »Dein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen«, hatte Rose ihm einmal in einem Streit beim Abendessen entgegengeschleudert, »und darauf bist du auch noch stolz, du Wicht.« »Stimmt«, sagte David. Diesmal klatschte er tatsächlich, als ihm der Novemberabend vor sechs Monaten einfiel. »Bravo, Miss Procter«, rief er. So johlend wie damals. Die Erinnerung an die Szene bei Tisch, an seine unglückliche Mutter und seinen feixenden Vater, erschien ihm in Nairobi noch komischer als in London. Er drückte seinen rechten Fuß fest auf den Zebrahocker und stemmte seine Hände in die Hüften. Einen herrlichen Augenblick stellte er sich vor, er wäre Lord Nelson und müsste die Schlacht von Trafalgar gewinnen. Schon kniete der Seeheld vor seinem König. Als er wieder aufstand, erinnerte er sich wunderbar bildhaft an die unerwartete Kriegserklärung seiner allerorten als liebenswürdig gelobten Schwester. Geheult wie ein Kindergartenkind hatte die gute Rose und dann auch noch Curryketchup auf die weiße Bluse ihrer Schuluniform gegossen. Die halbe Flasche.
    »Tor«, hatte ihr Bruder geschrien, »du musst die Flasche noch kräftiger schütteln, Baby.«
    Rose hatte aufs Neue zu schluchzen angefangen, und die Mutter hatte David getreten. Ganz fest. Unter dem Tisch. Sein Vater aber hatte das Feuer noch geschürt und dem Sohn zugezwinkert.
    David liebte solche Männerkumpanei, doch es war typisch für ihn, dass er sich nun nicht genug Zeit gönnte, um die heitere Szene, die so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, entsprechend lange zu genießen. Unmittelbar nach dem Geschwisterkampf fiel ihm nämlich abermals Rabbiner White ein. David begann zu schwitzen. Seine Gedankensprünge ängstigten ihn. Er neigte sonst nicht dazu, gleichzeitig in mehreren Welten zu leben. Die Atmosphäre im Hotelzimmer hatte doch nichts mit jener in der düsteren Bibliothek seines Tutors gemein. Dort sah jedes Buch so aus, als wäre es auf der Wüstenwanderung der Kinder Israels mitgeführt worden. Versehentlich hatte David das einmal sogar ausgesprochen und sich prompt entsetzlich geschämt, weil ihm die Bemerkung recht unpassend für einen vorkam, der in einigen Monaten ein Mann sein würde, doch der Rabbiner hatte sich nicht kränken lassen. Schon gar nicht von einem überaus sympathischen Schüler, der so berührend interessiert war an dem, was er für seine Barmitzwa zu lernen hatte.
    »Und den Kaktus«, hatte er vorgeschlagen und auf den Blumentopf am Fenster gezeigt, »hat unser Moses zusammen mit den Zehn Geboten gegen den Felsen geschleudert. Siehst du noch, dass das große Blatt eine Narbe hat?« »Ja«, hatte David gesagt. »Warum soll ich etwas nicht sehen, was Sie sehen? Und er auch gesehen hat.«
    Dieser kleine Scherz und wie aus ihm ein großes Gespräch über Moses, die Kraft im Glauben und das Vertrauen auf Gott geworden war wurde in der Erinnerung so lebendig, dass David für die Dauer eines erregten Herzschlags die Orientierung verlor. Er hörte sogar des Rabbis gutturale Stimme. Sein langer Bart leuchtete hell, die Augen waren so gütig wie an dem Tag, da sie beide von Moses gesprochen hatten, als würde er noch leben.
    »Warum nicht?«, fragte David, doch sosehr er sich bemühte, er konnte nicht herausfinden, mit wem er geredet und was er gemeint hatte.
    Er war zu diesem Zeitpunkt erst zwei Stunden in Nairobi.
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