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Uebergebt sie den Flammen

Uebergebt sie den Flammen

Titel: Uebergebt sie den Flammen
Autoren: Tilman Röhrig
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Händen und Füßen kroch die Jüngste den Schwestern voran, oben auf dem Rand liefen sie gemeinsam los. Wendel flog hinüber, erklomm die Böschung. Weit vor ihr rannten die Kinder.
    Kein Alarm. Kein Schuss fiel. Geduckt hetzte Wendel über den Streifen des Todes. Das dichte Unterholz nahm die Kinder auf. Zweige schlugen Wendel ins Gesicht, das Grün schloss sich hinter ihr. Nicht ausruhen! Die Kinder hüpften, tauchten in das Buschwerk, sprangen und rannten. Auch damals war es eine Flucht.
    Irmel blieb stehen und ließ sich fallen. Atemlos sanken die Schwestern neben ihr auf den Boden. Wendel kauerte sich zu ihnen, legte der Jüngsten den Finger auf den hechelnden Mund. »Nicht weinen. Sei ganz still.« Endlich hatte der Atem wieder Platz in der kleinen Brust. »Wir gehen jetzt, mein Herz. Aber wir dürfen nicht mehr stehen bleiben.« Fest nahm sie Irmels Hand.
    Nach mehr als einer Stunde lichtete sich das Niederholz. Wendel versteckte ihre Kinder und spähte hinaus. Vor ihr erstreckten sich Wiesen, weit zwischen Baumgruppen lag ein Gehöft, dann Felder bis zum Horizont.
    Rufe, das Knallen der Peitschen, links von ihr drang gedämpfter Lärm über die Äcker. Karren holperten auf dem Fahrweg, der endlose Treck zog an ihrem Blickfeld vorbei in Richtung Münster. Sie begleitete eins der Gespanne, bis die Büsche es verschluckt hatten. Hinter ihr, irgendwo hinter ihr würde es bei den Stellungen und Zelten der Belagerer ankommen.
    »Du bist mein Hirte«, flüsterte Wendel, legte die Hände unter ihrem Kinn zusammen. Sie erschrak, fingerte nach dem Band, riss es von ihrem Hals, huschte zu den Kindern. »Gebt mir die Taler.«
    Gemeinsam wühlten sie ein Loch in den dunklen Boden, warfen Schnüre und ihre Erkennungszeichen hinein und stampften die Erde fest.
    Sie wanderten über die Wiesen, auf schmalen Pfaden zwischen den Feldern, umgingen jeden Bauernhof.
    Der Abend war mild, spät fiel die Dämmerung.
    »Legt eure Hände weit vor dem Bauch zusammen«, forderte Wendel die erschöpften Mädchen auf.
    »Wie beim Beten?«, fragte Irmel.
    Behutsam, ohne die Ähren zu knicken, drängten sie sich in ein hohes Kornfeld. Erst tief im Versteck raufte Wendel ihren Töchtern ein weiches Lager. Irmel und Lenel schliefen sofort.
    Stumm hockte Lisabeth neben der Mutter. Wendel strich sanft den zitternden Rücken, dann presste sie die Tochter an sich. »Ich liebe dich, mein Kind.« So umarmt sanken sie zurück.
    »Ich habe keine Angst, Mutter.«
    Wendel blickte in den dunklen Himmel. Gestern Nacht habe ich dich zum zweiten Mal geboren.
    *

D rei Reifen schnellten durch die Luft und rollten aus dem Feldtor von Büderich. Auf bloßen Füßen verfolgten die Mädchen ihre Räder, jagten sie mit Stockschlägen zwischen den erntereifen Gärten vor sich her. Der warme Oktober hatte begonnen, das Laub der Apfelbäume zu malen. Stockschläge, schneller liefen die Reifen über den Weg, der sich weit durch die Felder reckte, hüpften über Steine, trudelten gefährlich auf dem Rand der Wagenspur. Stockschläge und Lachen jagten die Spielräder in den sonnigen Mittag.
    »Ach, Greet!« Wendel schwenkte die leere Milchkanne hin und her. »Es ist immer noch wie ein Traum!«
    »Nein, Kindchen. Jetzt bist du wach. Vergiss den Traum!« Streng sah Greet die Freundin an, blickte nach vorn, den Kindern nach, mit den Augen hütete die große Frau ihr wiedergeschenktes Glück.
    Nachdem sie das Vieh versorgt, die halbgelähmte Mutter trotz keifender Gegenwehr gewaschen und ihr das Essen neben dem Bett bereitgestellt hatte, nach den allmorgendlichen Pflichten auf ihrem Hof, war Greet in die Wagnerei gekommen. »Am heiligen Sonntag ruht die Arbeit! Spült die Milchkanne aus, wir gehen in die Beeren.« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. Jubelnd waren die Kinder mit der Kanne zum Brunnen gelaufen.
    »Ins Versteck?« Wendel schloss erschreckt die Lippen.
    »Ja, Kindchen«, Greet hielt sie mit den Augen, »es ist Zeit.«
    »Ich weiß nicht, ob ich den Mut habe.« Fahrig tastete Wendel nach dem Tisch, strich die Hände über das hellgescheuerte Holz.
    Seit ihrer Rückkehr lebte sie auf der Spitze des Glücks, stürzte ohne Halt in Bilder des Grauens, und mit dem nächsten Herzschlag glaubte sie wieder vor Glück zu zerspringen. Erst dünner Schorf bedeckte ihre Wunden. Ängstlich mied sie die Werkstatt, allein der Gedanke an die aufgestellten Hocker dort im Kreis rief die Stunden mit Johann und Adolph wach, schnürte ihr die Kehle.
    Wendel atmete gegen die
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