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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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eine nasse, abschüssige Wiese: Wie schnell konnten Jahre hinzukommen, Jahrzehnte, ein ganzes Leben. Nein, die Dauer der Strafe zu berechnen, wäre reine Zeitverschwendung. Und Zeit zu verschwenden hatte Luisa nun wirklich nicht.
    Auch jetzt noch nicht, da ihre Kinder herangewachsen waren. Mittlerweile packte sogar Luca schon mit an, sammelte im Hühnerstall die Eier ein und fütterte die Kaninchen mit Gras. Und die beiden ältesten, Anna und Ciriano, konnten die Wirtschaft in Haus und Stall wenn nötig auch allein, ohne ihre Mutter, aufrechterhalten.
    Ja, sie hatte noch Glück, und das sagte sie sich auch immer wieder. Fünf gut geratene Kinder, anständig und fleißig, daran gewöhnt, sich jederzeit nützlich zu machen. Manche der Frauen in ihrem Dorf, die ihren Mann zu Hause hatten, beneideten sie darum. An dem Tag, als Ciriano die Prüfung für den Traktorführerschein bestand, hatte sie vor Freude geweint. Fast zehn Jahre lang hatte sie selbst den Traktor fahren müssen, der ohrenbetäubend laut war und nach Diesel stank. Wenn man da drauf saß, blieb einem wirklich nichts anderes zu tun übrig, als zu zählen: die bereits gepflügten Reihen, die Furchen, die noch zu ziehen waren, die Meter, die bis zur nächsten Wende fehlten. Nach einem solchen Tag, das Feld hoch und runter, in einem fort, wie ein Hamster im Käfig, war Luisa schließlich wie erschlagen vom Traktor gestiegen, das Kreuz taub von den Vibrationen, den Kopf leer von Lärm und Langeweile, das Gesicht schwarz von den Auspuffgasen, die ihr der Wind entgegenblies. Und dann war noch das Abendessen zu kochen gewesen, die Wäsche zu bügeln, Kleider zu stopfen. Es waren diese Stunden, in denen sie ihren Mann tatsächlich vermisst hatte: mehr als am gedeckten Mittagstisch, auf dem ein Teller fehlte, mehr als nachts im Bett, das sogar leer – auch wenn sie dies niemals jemandem gestanden hätte – eher eine Erleichterung für sie war. Nein, beim Traktorfahren war es, dass Luisa der Ehemann fehlte. Und eben deswegen war sie so glücklich, als Ciriano seinen Führerschein bekam.
    Den Besuch im Gefängnis hatte sie für einen Dienstag beantragt. Da waren die Kinder in der Schule, und sie brauchte sich weniger Sorgen zu machen. Am Montagmorgen hatte sie sich auf die Reise gemacht, und Mittwochabend wollte sie, wie Anna versprochen, wie der zu Hause sein.
    Der Samstag zuvor war mit Kochen dahingegangen. Dabei ließ sie sich von Irene und Luca, den beiden Jüngsten, helfen, und gemeinsam bereiteten sie gefüllte Ravioli zu. Ravioli in großer Menge, damit ihr Mann den anderen Häftlingen etwas abgeben konnte. Es war ihm nie leichtgefallen, Kontakte zu knüpfen, selbst als jungem Kerl nicht, auch nicht in Freiheit. Und umso schwerer tat er sich heute damit. Vielleicht half es ihm da etwas, die Leckereien von zu Hause mit anderen Gefangenen teilen zu können.
    Einhundertdreiundfünfzig Ravioli. Sie hatten sie mit ausreichend Abstand auf dem ganzen Küchentisch ausgebreitet, um sie trocknen zu lassen. Nach einigen Stunden legte Luisa sie sorgsam, Stück für Stück, in eine Schachtel, bestreute sie mit Grießmehl und trennte die Lagen noch einmal mit Ölpapier, damit sie nicht aneinanderklebten. Luca hatte mit trau riger Miene zugesehen, wie sie die Schachtel ver schloss, ohne auch nur eine einzige Teigtasche draußen zu lassen.
    Â»Das ist gemein«, sagte Irene.
    Luisa hatte den Blick gehoben. Irene war die Tochter, die ihr noch die meisten Sorgen machte, weil sie in der Schule ständig mit den Freundinnen schwatzte und sich kaum für die Mittlere Reife interessierte, die sie in diesem Jahr schaffen sollte. Sie hatte das dunkle Haar ihres Vaters, und ihre Augen wanderten ständig umher, als suchten sie etwas. Zwar half sie im Haushalt, aber nur wenn man sie dazu aufforderte. Nein, sie war nicht wie Anna und Maddalena, die selbst sahen, was zu tun war.
    Â»Du weißt doch, dass sie für deinen Vater sind«, hatte Luisa geantwortet.
    Â»Der hat’s gut.« Und damit war Irene, mit der perfekten Grobheit ihrer vierzehn Jahre, aus der Küche gestürmt.
    Die Schachtel in der Hand stand Luisa da und spürte, wie ihr die Ohrfeige, die sie ihrer Tochter zu geben verpasst hatte, in den Fingerspitzen kribbelte.
    Gestern Morgen hatte sie dann, nachdem die Kühe fertig gemolken waren, für alle das Frühstück gemacht und die
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