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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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glatt wie zuvor, doch vor der Sonne hatte sich ein dunklerer Schleier gebildet.
    Glatt wie ein kostbarer Stoff, wie Seide .
    Der Vergleich brachte Paolo zu sich selbst zurück – so wie Gedanken das eben tun –, und dieser kurze, wohltuende Moment des Vergessens war dahin. Er hob den Blick. Es war keine öffentliche Fähre, auf der sie übersetzten, denn der Zugang zur Insel war ge sperrt, und wer hinüberwollte, musste schon einen guten Grund dafür haben. Und das konnte nur einer sein.
    Wie immer, wenn es zurückkehrte, legte sich das Bewusstsein seiner selbst wie ein schwerer Grabstein auf seine Brust. Paolo öffnete den Mund und stieß die Luft so kräftig aus, als müsse er sich tatsächlich von einer schweren Last befreien. Seit wie vielen Jahren schon entfuhren ihm diese unwillkürlichen, lauten Seufzer, die noch kein Stöhnen waren, aber auch schon mehr als ein bloßes Ausatmen, und mit denen er immer rechnen musste, auch wenn er irgendwo von Menschen umgeben war: an einem Gemüsestand auf dem Markt etwa, in einer Warteschlange auf der Post, beim Mittagessen im Haus seiner Schwester? Es war wirklich keine schwere Frage, die Antwort kannte er: drei Jahre, sechs Monate und ein paar Tage.
    Auf einer angerosteten, weiß lackierten Bank auf dem Vorderdeck saß eine Afrikanerin. Sie blickte starr vor sich hin, ihr Profil wie eingeritzt in dunkles Holz. Ihre Kleider wiesen weder in der Farbe noch im Schnitt oder der Machart irgendwelche Bezugspunkte auf, sondern schienen aufs Geratewohl aus einer großen Kiste herausgegriffen, vielleicht im Lager irgendeines Wohlfahrtsverbandes. Doch selbst in dem unförmigen, für das noch milde Klima zu dicken Mantel, den ihre außergewöhnlich langen, dunklen Finger mit den makellosen rosafarbenen Nägeln zusammenhielten, war sie eine wahre Schönheit. Ob ihr selbst das bewusst war?
    Die meisten Passagiere waren Frauen, nur wenige Männer. Da es oben kühl war, saßen fast alle unter Deck im Aufenthaltsraum, der mit unbequemen Holzbänken eingerichtet war. Und alle hatten sie ein Paket dabei, in Packpapier, in Sackleinen oder in große Plastiktüten eingewickelt, jedenfalls keinen Koffer, son dern etwas, das nicht mit zurückgenommen würde von dem Ort, zu dem sie unterwegs waren.
    Auf Deck befanden sich neben Paolo nur die Afrikanerin und eine blonde Frau, der er, wenn er sich nicht täuschte, schon einmal begegnet war. Sie mochte drei ßig, vielleicht aber auch schon fünfzig Jahre alt sein. Eine jener Frauen, die so aussahen, als seien sie mit zwölf schon in der Lage gewesen, auf die jün geren Geschwister aufzupassen und für die ganze Familie Suppe zu kochen und die Wäsche zu bügeln. Eine der Frauen, die mit zwanzig bereits bei all ihren häuslichen Tätigkeiten über die gelassene Routine der mittleren Jahre verfügten. Nicht dass sie schwer oder dick gewesen wäre, ganz im Gegenteil, sie besaß den schlanken, kräftigen Körper eines Menschen, der daran gewöhnt war, ihn auch einzusetzen. Vielleicht war sie in jungen Jahren eine gute Sportlerin gewesen. Was sie am Leibe trug, schien ihr bestes Kleid zu sein, obwohl es jetzt zerknittert war von einer Reise, die wahrscheinlich bereits vor dem Überqueren dieser Meeresenge lang und anstrengend gewesen war. Paolo erinnerte sich jetzt wieder, wann er sie schon einmal gesehen hatte: am Vorabend, beim Einschiffen auf die Autofähre, die sie vom Festland zur der großen Insel hinübergebracht hatte. Später war er ihr nicht mehr begegnet. Allerdings hatte er danach auch sofort seine Kabine aufgesucht und sie bis zum Anlegen an diesem Morgen, im Hafen neben der Ölraffinerie, nicht mehr verlassen.
    Jetzt stand die Frau am Bug, die Hände an der Reling, den Mund ein wenig geöffnet, und schien den Blick ihrer fast kindlich weit aufgerissenen Augen nicht von der Weite des Meeres um sie herum abwenden zu können.
    Paolo war sich sicher: Es war das erste Mal, dass sie das Meer sah.
    Sechs Bänke waren auf dem Vorderdeck des Schiffes, drei auf jeder Seite.
    Die Geländer links und rechts bestanden aus sieben Stangen, die zwei waagerechte Rohre sowie den Handlauf trugen.
    Zellen für den Transport der Häftlinge gab es acht, aber sie befanden sich auf dem Unterdeck, und da sie nicht zu sehen waren, zählte Luisa sie auch nicht.
    Es lief alles gar nicht so schlecht, sagte sie sich häufig. Oder
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