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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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zumindest hätte auch alles viel schlechter laufen können. Was man da sonst so für Geschichten mitbekam: Etwa von der bedauernswerten Frau, der ein Richter die Besuchsgenehmigung mit der Begründung verweigerte, für dieses Trimester habe sie alle ihr zustehenden Besuche bereits ausgeschöpft, wodurch sie plötzlich erfuhr, dass ihr Mann vor der Behörde eine andere als seine Ehefrau ausgab, während sie, die echte Ehefrau, sich allein zu Hause um die fünf gemeinsamen Kinder kümmern musste. Oder von dieser anderen Frau, die damals in Voghera neben Luisa an dem langen Tisch in dem Besuchsraum gesessen und ihrem inhaftierten Mann ein Paar selbst gestrickte Hüttenschuhe mitgebracht hatte. »Ich will keine Pantoffeln, ich will hier raus!«, hatte er sie angeherrscht und ihr die Hüttenschuhe ins Gesicht geworfen.
    Immer wieder spielten sich in den Besuchsräumen dramatische Szenen ab. Viele Frauen von Gefangenen hatte Luisa beim Abschied weinen sehen – sehr viel häufiger als beim Eintreffen, das aber sicher nicht nur wegen der Trennung. Sie selbst allerdings hatte in all den Jahren (neun waren es und zehn Monate) noch nichts Schlimmes erlebt, und deshalb sagte sie sich, dass sie ja noch Glück hatte. Ihr Mann pflegte die Pakete, die sie ihm brachte, mit einem Kopfnicken anzunehmen, oftmals bedankte er sich auch anschließend.
    Manchmal hatte Luisa sogar auf der anderen Seite des langen Tisches kurz das Gesicht wieder vor sich gesehen, in das sie sich verliebt hatte, als er sie zum ersten Mal zum Tanz ausführte. Ziemlich bald nach ihrer Hochzeit war dieses Gesicht dann aber verschwunden, und erst Jahre später hatte sie es wiederentdeckt, und zwar an dem Tag, als sie ihn zum ersten Mal mit einem ihrer Kinder besuchte.
    Er hatte gerade sein endgültiges Strafmaß erhalten, als Irene, ihre Zweitjüngste, von ihrem ersten Schultag nach Hause kam und erklärte, sie wisse nun, dass Papa tot sei. Die Lehrerin habe es ihr verraten, die habe gesagt: »Deinen Vater gibt es nicht mehr.«
    Seitdem hatte Luisa immer, wenn es sich einrichten ließ, ihre Kinder zu den Gefängnisbesuchen mitgenommen. Alle fünf zusammen war unmöglich, aber zwei oder drei, das schaffte sie. Das war allerdings noch vor dieser schlimmen Geschichte in Volterra, also bevor er in eines dieser speziellen Gefängnisse ge steckt wurde, in die mit Glasscheibe und Gegensprechanlage und so weiter: Vorher hatte er sich sogar noch die Kinder auf den Schoß setzen dürfen.
    Die Anwesenheit von Kindern im Besuchsraum stimmte alle freundlicher, weniger reizbar. Nicht nur die anderen Häftlinge und Besucher, sondern auch das Aufsichtspersonal. Sobald auch nur ein Kind im Raum war, das ein Vater auf dem Arm hatte, sah man immer wieder ein Lächeln. Einmal hatte ein Zellennachbar ihres Mannes, ein Hüne mit Händen wie Bügelbretter und Daumen wie Bratwürste, ihrem jüngsten Sohn Luca gezeigt, wie man aus Papier kleine Bumerangs herstellte, und ihm dann vorgemacht, sie mit einem gefühlvollen Schnalzen von Daumen und Zeigefinger in die Luft zu werfen. Wie die Propellerblätter eines Hubschraubers rotierten diese kleinen Kommas aus gefaltetem Papier durch den Raum, schwebten hin weg über die zusammengesteckten Köpfen der ins Gespräch vertieften Häftlinge und ihrer Angehörigen, flatterten an den vergitterten Fenstern vorbei über die alten Holztische und kehrten schließlich wie treue Hunde zu ihren Herrchen zurück.
    Luca war damals fünf. Wieder zu Hause redete er tagelang über nichts anderes als diese Bumerangs und ihren Konstrukteur, und als der nächste Besuch anstand, bestürmte er Luisa, wieder mitgenommen zu werden, obwohl nun eigentlich Irene oder Ciriano an der Reihe waren. Dann brachte er wieder die gesamte Besuchszeit damit zu, zusammen mit diesem Häftling gefaltete Papierfetzen fliegen zu lassen. Der Vater griff nicht ein in dieses Spiel, beobachtete es nur schweigend, die Lippen zum Anflug eines Lächelns geöffnet, die Pupillen geweitet, wie um noch intensiver mit den Augen diesen Anblick seines spielenden Sohnes in sich aufnehmen zu können. Und Luisa erkannte dabei den Blick wieder, mit dem er sie an jenem ersten Tanzabend angeschaut hatte, in der Zeit vor ihrer Hochzeit, bevor sie mit dem Gesicht gegen Balken oder die Kanten der Anrichte gestoßen war, bevor das ganze Drama begann.
    Zu Ende der Besuchszeit, bevor sie
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