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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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glaubte, dass es sich um eine Diskothek handelte. Dann setzte er sich in den Sand, der weiß wie Schnee im Mondschein funkelte, während die Lichter des Gefängnisses, in das man ihn versetzt hatte, durch die Landspitze verdeckt wurden, und verging vor Sehnsucht nach diesen schimmernden Verheißungen dort in der Ferne. Auch die Geräusche, die ihn umgaben, trugen zu dieser Stimmung bei. Die Brandung der See, der Ruf eines Uhus, das Grunzen eines Wildschweins, das im Unterholz wühlte: Er fühlte sich erdrückt von dieser Überfülle der Natur. Und so meinte er an manchen Aben den sogar zu hören, wie ihm der Wind von dieser gar nicht so fernen, doch unerreichbaren Küste den Widerhall einer fröhlichen Musik zutrug. In diesen Momenten steigerte sich die Sehnsucht zu Schmerz, und Pierfrancesco traten Tränen in die Augen.
    Nachdem er schon einige Wochen auf der Insel lebte, kehrte er an seinen ersten freien Tagen mit der Passagierfähre aufs Festland zurück. Und erst da machte er sich die Lage der Insel bewusster und begriff: Diese Lichter, nach denen ihn solch ein heißes Verlangen gepackt hatte, kamen nicht aus einer Diskothek, sondern waren die Scheinwerfer der Ölraffinerie.
    Seiner Frau hatte er das nie erzählt. Bereits am ersten Abend, den Maria Caterina, frisch verheiratet, auf der Insel erlebte, hatte sie mit untrüglichem Orientierungssinn erkannt, dass diese Lichter zu dem Chemie werk am Hafen gehörten, von dem aus sie mit der Passagierfähre übergesetzt war. Diese einsamen Tränen, die er als ganz junger Bursche dort am Strand vergossen hatte, waren also das erste Geheimnis, in das Pierfrancesco seine Frau nicht einweihte. Weitere sollten folgten – Geheimnisse, die nicht so harmlos waren. Doch dies war das erste. Aber wer will schon vor seiner jungen Braut als Idiot dastehen?
    Und auch gestern Abend war es seine Frau gewesen, die ihn auf den Mond aufmerksam gemacht hatte.
    Als sie das Haus verlassen hatten, nahm sich Maria Caterina noch einmal vor, ihm auf dem Spaziergang die Frage zu stellen. Diese Frage war weder kompliziert noch lang oder schwer zu verstehen. Nein, sie war im Gegenteil ganz, ganz einfach:
    Was ist los mit dir?
    Nur das wollte sie ihren Ehemann, den Strafvollzugsbeamten Nitti Pierfrancesco fragen.
    Seit Monaten schon schaffte sie es nicht. Und jedes Mal, wenn ihr die Frage auf der Zunge gelegen hatte, ohne dann gestellt zu werden, wurde sie wieder etwas schwerer, belastender, schnürte ihr Tag für Tag ein wenig fester die Brust zusammen. So wie gestern Abend. Es war dieses unheimliche Licht, das ihre Entschlossenheit ins Wanken gebracht hatte. Anstatt ihm endlich jene Frage zu stellen, hatte sie auf den Mond gedeutet und gesagt:
    Â»Sieh mal!«
    Das krumme Oval des Dreiviertelmondes war von einem milchigen Hof umgeben, der fast regenbogenbunte Reflexe in die Dunkelheit warf. Der Strand, der mit seinem weißen Sand selbst bei Neumond noch leuchtete, wirkte nun matt.
    Alle beide hatten sie geschwiegen, während ihre Hände sich unwillkürlich suchten. Der Spaziergang fiel kürzer als gewöhnlich aus. Und auch wenn sie kein Wort darüber verloren, waren beide erleichtert, als sie endlich wieder ein von Menschenhand geschaffenes Dach von diesem befremdlichen Himmel trennte.
    Der Häftling war ein Mann mittleren Alters, dunkler Typ, nicht besonders groß, und sah aus, wie aus einer Zahnpastatube gepresst: Sein Körper war unten schmal, um sich bis zu den Schultern mehr und mehr zu verbreitern, und der Umfang seiner Oberarme reichte fast an den der Oberschenkel heran. Er saß auf einer mit dem Fußboden verschraubten metallenen Bank, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf zwischen den Händen.
    Nicht den Kopf runterhalten, so wirst du ganz sicher seekrank . Das hätte der Vollzugsbeamte Nitti zu ihm sagen können, doch der schwieg.
    Der Mann starrte auf seine Füße, und es war offensichtlich, dass auch er wenig Lust zu reden hatte.
    Wahrscheinlich war er wegen Vergewaltigung möglicherweise eines Kindes verurteilt worden. In der Regel waren den Vollzugsbeamten die Straftaten der Neu ankömmlinge nicht bekannt, es sei denn, sie waren in Prozessen verurteilt worden, die durch die Presse gegangen waren. Nitti wusste jedoch, dass er ihn nach den Aufnahmeformalitäten in der Zentrale in eines der »Kittchen«, wie die kleineren Gefängnisse auf der Insel genannt wurden, zu bringen
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