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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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Waschmaschine beladen, für die noch neunzehn Raten abzubezahlen waren. Das Paket, das im Gefängnis bleiben würde, hatte sie bereits am Vorabend gepackt und ebenso die Tasche mit den wenigen Dingen, die sie selbst für die Reise benötigte. Als sie das Haus verließ, war der Himmel immer noch schwarz, und kein Hahn krähte, nicht einmal der ungeduldige vom Nachbarhof, der den Sonnenaufgang immer mindestens eine Stunde zu früh verkündete. Sie hatte die Kanne mit der noch warmen Milch an den Straßenrand geschoben, zum Abholen für den Tank wagen der Molkerei, der jeden Morgen vorbeikam. Erst dann hatte sie sich mit dem Paket unter dem Arm und der Tasche über der Schulter zu Fuß auf den Weg zum Dorfplatz gemacht, wo an Werktagen frühmorgens um 5.03 Uhr der Bus zur Kreisstadt abfuhr. Von dort aus nahm sie den ersten der vielen Zügen ihrer Reise, so wie sie es mittlerweile schon oft getan hatte, anfangs um den Prozess zu verfolgen, später für ihre Besuche in den Haftanstalten. Auf diese Weise hatte Luisa viele Städte gesehen; manche kannte sie schon aus der Geo grafiestunde in der Grundschule (Florenz, Mailand), von anderen hatte sie nicht einmal den Namen gehört (Fossombrone, Voghera). Dieses Mal jedoch lag ihr Ziel noch weiter entfernt.
    Man hatte ihren Mann in ein Gefängnis überführt, das anders war als die, die sie kannte. Eines jener Sondergefängnisse, von denen in Italien wohl eine ganze Reihe eingerichtet worden waren. Denn es herrsche eine Art Bürgerkrieg im Land, so hieß es, und die politischen Häftlinge müssten als Kriegsgefan- gene betrachtet und auch so behandelt werden. Luisa wusste nichts davon, doch eben jene Passagierfähre, auf der sie jetzt übersetzte, trug den Namen eines Opfers in diesem bewaffneten Konflikt: ein Vollzugsbeamter, der einige Jahre zuvor während einer Revolte in einem Gefängnis getötet worden war. Und seit man im Jahr zuvor einen der wichtigsten Politiker im Land zunächst entführt und dann ermordet hatte, war das Leben in diesen Strafanstalten noch härter geworden.
    Mit diesem Bürgerkrieg, der jetzt die Schlagzeilen der Tageszeitungen beherrschte, hatte Luisas Mann eigentlich nichts zu tun. Doch auch er hatte einen Voll zugsbeamten getötet. Ohne Waffe, mit Fäusten und Tritten. Es hatte nicht lange gedauert, bis die anderen Wärter an Ort und Stelle waren, aber als sie ihren Kollegen unter dem Häftling hervorzogen, mochten sie kaum glauben, dass jemand mit bloßen Händen, und in so kurzer Zeit, einen Mann derart entstellen konnte.
    Drei Tage später starb der Beamte. Aus diesem Grund hatte man Luisas Ehemann auf die Insel gebracht. Denn will man jemanden wirklich absondern vom Rest der Welt, gibt es keine Mauer, die höher wäre als die See.
    Und so kam es, dass Luisa dieses Mal beim Aufbruch neben der Anspannung, der Unsicherheit, dem ganzen Gefühlswirrwarr, mit dem sie immer die langen Reisen antrat, die sie zu ihrem Ehemann führten – Gefühle, die sie mit Vorbedacht keiner allzu genauen Prüfung unterzog –, dass sie dieses Mal also etwas verspürte, das neu war, aufregend, ein Gefühl, das sie sich selbst niemals eingestanden hätte: Vorfreude.
    Denn das Meer hatte sie zuvor noch nie gesehen.
    In der Nacht war der Mond von einen Hof umgeben. Das hatte der Strafvollzugsbeamte Nitti Pierfrancesco beobachtet, als er gestern, wie an jedem dienstfreien Abend, nachdem sie gegessen hatten und die Kinder im Bett lagen, mit seiner Frau zu einem kleinen Spaziergang am Meer aufgebrochen war. Genau genommen, war sie es sogar, die ihn darauf aufmerksam gemacht hatte; denn wenn er am Strand spazieren ging, der wie ein weißes Komma dem Verlauf der Bucht folgte, richtete er den Blick weniger auf den Himmel als vielmehr auf die Lichter der gegenüberliegenden Küste.
    Wie oft hatte er dorthin gestarrt, damals als junger, gerade mal zwanzigjähriger, noch lediger Wachtmeister, den man auf eine Insel geschickt hatte, von der er bis dahin höchstens wusste, dass es sie ir gendwo gab. Wenn er jetzt daran zurückdachte, musste er lachen: Wie hatte er das Leben auf dem Festland vermisst – die Mädchen, die Spritztouren mit den Kollegen nach Feierabend, die Bars, kurzum die Jugend, der er sich trotz seiner Uniform immer noch zugehörig gefühlt hatte –, dass er beim Blick auf die Lichterreihen an der fernen Küste zu erkennen
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