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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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mit Ciriano gegangen war, hatte dieser Mithäftling sie angesprochen: »Keine Sorge, Kindern von Freunden würde ich nie im Leben etwas tun.«
    Luisa hatte nicht verstanden, was diese Aussage zu bedeuten hatte. Beim nächsten Besuch fragte sie ihren Ehemann, und der erklärte ihr, dass der Mann in Haft war, weil er sich an kleinen Kindern vergangen hatte. Hier im Besuchsraum aber habe nie jemand erlebt, dass er einem Kind zu nahe gekommen sei. Ganz im Gegenteil würden sie alle immer wieder nach ihm fragen.
    Nach der Geschichte in Volterra und der zweiten Verurteilung saß ihr Mann dann in Gefängnissen, die zu weit von zu Hause entfernt lagen, um die Kinder dorthin mitnehmen zu können. Und diesen Gesichts ausdruck – versunken, heiter, gerührt, offen – hatte sie nie mehr bei ihm gesehen.
    Mittlerweile war sie fast vierundzwanzig Stunden unterwegs, aber müde war sie nicht. Sie hatte auf der Autofähre geschlafen, in einem Sessel im Passagierraum, den Kopf auf dem Paket für ihren Mann, das sie sich auf die Beine gelegt hatte. Am Morgen zuvor war sie um zwei Uhr aufgestanden, um noch vor der Abreise die Kühe zu melken und so den Älteren etwas Arbeit abzunehmen, sodass auch ihre beiden Jüngsten problemlos zur Schule kamen. Auch das war ja etwas, womit sie sich glücklich schätzen konnte: Ihre Kinder waren größer geworden, waren keine Knirpse mehr wie anfangs, als alles geschah, und Anna, die Älteste, erst elf war, Luca zwei und die drei anderen Kinder dazwischen. Jetzt war das Nesthäkchen so alt wie damals ihre Größte, die jetzt schon zwanzig war. Zwanzig! Zwei Jahre älter als Luisa, als sie geheiratet hatte …
    Und schon war sie wieder mittendrin im Zählen und Rechnen. Rechnen, zählen, bei jeder Gelegenheit. Sie rechnete die Liter Milch aus, die sie jeden Morgen an die Molkerei lieferte; die Wochen, die es noch dauerte, bis eine ihrer Kühe kalbte; das Alter jedes einzelnen ihrer Kinder in jener Nacht, als die Carabinieri anrückten und ihnen den Vater nahmen. Sie schrieb sich die Ziffern auf dem Stromzähler auf und rechnete sich aus, wie viel sie an welcher Stelle noch sparen konnten, auch wenn die Kinder wussten, dass kein Licht gemacht wurde im Haus, bis man sich fast den Kopf an der Wand stieß, weil es so dunkel war. Sie berechnete die Raten für die Waschmaschine und zählte das Geld nach, das sie einnahm. So wie damals, als ihr ein Fleischer den Betrag für ein Kalb, das er kaufen wollte, in die Hand gedrückt hatte und sie schnell feststellte, dass es weniger war, als er ihr schul dete. Und sie wusste auch, warum: Die Leute dachten, eine Frau, die ohne Mann dastand, lasse sich leicht betrügen. Doch sie hatte die Scheine gezählt, dann noch mal nachgezählt und ihn schließlich ruhig und kühl dazu aufgefordert, draufzulegen, was noch fehlte, sonst würde das Kalb eben auf dem Hof bleiben. Der Mann hatte so getan, als handele es sich um ein Versehen, er müsse sich wohl verzählt haben. Ja, ganz bestimmt! Vermutlich hätte er es gar nicht erst versucht, wenn er gewusst hätte, dass Luisa sogar die Holzlatten der Bänke auf dem Kirchplatz gezählt hatte (acht) oder auch die Schritte, die zwischen ihrem Haus und dem Heuschober lagen (sechsundzwanzig).
    Hin und wieder, vor allem mitten in der Nacht, schwirrten ihr all diese Zahlen durch den Kopf, sodass sie nicht schlafen konnte. Um sie zu vertreiben, stellte sie sich den warmen Atem der Kühe vor, ihre weißen, samtweichen Euter, den Geruch von Lab, Mist, Heu und Holz, der sie am Morgen im Stall empfangen würde. Und sie sagte sich, dass es wohl nicht mehr lange dauerte, bis es Zeit war aufzustehen, die Schürze umzubinden, in die Gummistiefel zu steigen und zum Melken in den Stall zu gehen, um auf diese Weise, ohne sinnlose Grübeleien, den Tag zu beginnen. Die Augen weit offen, lag sie in der Dunkelheit und wartete so ungeduldig auf diesen Augenblick wie eine Liebende auf den Geliebten.
    Nur eines berechnete Luisa nie: die Jahre, die ihr Mann noch absitzen musste. Ohnehin hatte der Anwalt ihr gesagt, dass die schockierende Anzahl von Jahren, die vom Richter in Florenz verkündet und vom Berufungsgericht später bestätigt worden war, nicht viel zu bedeuten habe. Und nach den Ereignissen im Gefängnis von Volterra, genauer nach dem, was ihr Mann dort getan hatte, wusste sie selbst, dass diese Zahl so rutschig war wie
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