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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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Besuchern niemand zum Sondergefängnis musste.
    Normalerweise wurden die Häftlinge, die Besuch bekamen, zu ihren Terminen in die Zentrale nicht weit von der Anlegestelle gebracht. Nur die aus dem Hochsicherheitsgefängnis durften nicht raus. Also mussten sich deren Angehörige zu ihnen auf den Weg ma chen, zu dem flachen Gebäude ganz am anderen Ende, dem Punkt der Insel, der am weitesten von der Landebrücke entfernt war. Dieses Hochsicherheitsgefängnis war die einzige Außenstelle, die niemand auch nur im Traum »Kittchen« genannt hätte, eine kindliche, fast zuneigungsvolle Bezeichnung, die überhaupt nicht zu den harten Haftbedingungen passte, die dort herrsch ten. Nun gut, der Matrose, mit dem er sich vorhin unterhalten hatte, war ja davon überzeugt, dass der Kapitän auf alle Fälle rechtzeitig zurückfahren würde, bevor der Maestrale losbrach. Gut für ihn, gut für alle. Aber Nitti konnte das eigentlich egal sein. Er selbst war, wenn sie die Insel erreicht hatten, zu Hause angekommen.
    Sein Zuhause. Das war sie tatsächlich, diese Insel, die ihm, als er dort als junger Bursche anfing, wie ein Gefängnis im Freien vorgekommen war. Nicht für die Häftlinge, nein, für ihn selbst. Und heute war es ihm unmöglich, sich den noch in weiter Ferne liegenden, doch unvermeidlichen Tag vorzustellen, da er in Pen sion gehen würde und die Insel verlassen musste. Es war ganz ähnlich wie bei den Häftlingen mit Freigang. Wenn sich, nachdem man jahrelang hier die Schafe gehütet, Felder bestellt und Reben beschnitten hatte, die Haftzeit dem Ende zuneigte, brach so manch einer in Tränen aus und flehte den Direktor an, ihn bitte nicht davonzujagen. Pierfrancesco erinnerte sich an einen Sechzigjährigen aus der Barbagia auf Sardinien, der nach einem Vierteljahrhundert auf der Insel in sein Heimatdorf zurückkehren sollte, weil er seine Strafe verbüßt hatte. Dieses Dorf war von einer schon Jahrhunderte währenden mörderischen Fehde, zu der er selbst einen nicht unbeträchtlichen Beitrag geleistet hatte, fast entvölkert worden. Am Morgen seiner Entlassung, bevor er an Bord der Fähre ging, suchte er noch einmal den Schafstall auf, um von den Tieren Abschied zu nehmen, die er jahrelang gehütet hatte, fiel ihnen um den Hals und küsste schluchzend jedes einzelne.
    Luisa hielt sich an der Reling fest und atmete tief ein und aus.
    Den Geruch des Meeres hatte sie auch schon am Abend wahrgenommen, als sie an Bord der Autofähre gegangen war, doch war er da noch mit der dicken Luft der Industriestadt vermischt gewesen, mit den Dieselschwaden vom Hafen, vor allem aber dem Atem des gesamten Festlandes, das hinter ihr lag. Die Sonne war schon fast am Horizont verschwunden, und Luisa hatte sich vorgenommen, auf Deck hochzugehen, sobald sie auf dem offenen Meer wären. Auf hoher See, im Dunkel der Nacht! Sie konnte es kaum erwarten. Doch die Müdigkeit nach drei Zügen, einem Überland bus und dem frühen Aufstehen am Morgen war stärker gewesen: Kaum hatte sie in einem der Sessel im Aufenthaltsraum unter Deck Platz genommen, war sie auch schon eingeschlafen.
    Jetzt, an Deck der Passagierfähre, schien die Sonne, das Licht war hell, wurde jedoch durch einen Schleier gefiltert, den das Wasser mit metallischem Glitzern reflektierte. Mühelos glitt das Schiff über die glatte See. Luisa beobachtete die Möwen, die sich mit ausgebrei teten, starren Schwingen von den Lüften tragen ließen, und fing an, sie zu zählen: Sieben waren es, und weitere schlossen sich an. Doch diese Weite um sie herum, vor allem aber das Zusammentreffen von Wind, Wasser und Salz, enthoben sie dem Wunsch zu zählen.
    Vor vielen Jahren, als sie jung verheiratet waren, hatten sie und ihr Mann eines Sonntags eine Wanderung unternommen, zu einem der Gipfel der Gebirgskette über dem Tal, aus dem sie stammten. Schwierige Stellen, an denen zu klettern gewesen wäre, gab es nicht, aber man brauchte eine gute Ausdauer. Die hatte Luisa, denn von früh auf war sie daran gewöhnt, den Kühen ihres Hofes nachzurennen und die Wiesen an den Hängen zu mähen: So erreichten sie ihr Ziel schon früher, als sie gedacht hätten. Auf dem Gipfelkreuz stand: › 2 302 Meter über Meereshöhe‹. Während ihr Mann das Gipfelbuch aus der verzinkten Dose unter dem Gipfelkreuz hervorholte, schaute Luisa sich um. Noch nie zuvor war sie so
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