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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe
Autoren: Francesca Melandri
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hoch hinausgekommen, noch nie hatte sie solch eine weite, offene Aussicht erlebt, von keinerlei Bergflanken verstellt. Wie alle Bauernkinder ihrer Gegend hatte sie die Sommer mit dem Vieh auf Almweiden verbracht, aber das hier war etwas anderes: Da keine höheren Berge um sie herum waren, konnte ihr Blick, in weite Fernen wandern, die ihr völlig unbekannt waren, über diese Gebirgskette hinaus und über die nächste ebenso und die übernächste auch und weiter und weiter, immer fort. Im Angesicht dieser ungeheuren Weite war Luisa verstummt. Ihr Mann aber, der beim Aufstieg schon mehr als einmal zur mit Grappa gefüllten Wasserflasche gegriffen hatte, begann zu singen. Seine Stimme übertönte das Rauschen des Windes, auf dessen unsichtbaren Schwingen, nur wenige Meter unter ihnen, eine schwarze Krähe schwebte. Luisa legte den Zeigefinger vor die Lippen.
    Â»Schsch! Hör doch …!«
    Dem Ehemann den Mund zu verbieten, war sicher nicht das, was Ende der Fünfzigerjahre von einer braven Bauersfrau erwartet wurde. Ganz gewiss aber war es nicht das, was Luisas Ehemann erwartete. Er packte sie am Unterarm und hielt sie fest.
    Â»Was hast du gesagt?«, zischte er.
    Von seiner Alkoholfahne erfasst, schloss Luisa die Augen.
    Â»Was hast du gesagt?!«
    Jetzt packte er sie an den Schultern und stieß sie, mit dem Gesicht voraus, auf den Abgrund zu.
    Â»Du willst also, dass ich den Mund halte? Soll ich wirklich den Mund halten?«
    Â»Nein …«, murmelte Luisa, die Beine bleischwer vor Schreck und vor Überraschung.
    Auf dem Heimweg bat er sie zum Verzeihung, sagte ihr, dass er sie liebe, dass er nicht im Ernst daran gedacht habe, sie hinunterzustoßen, so etwas würde er n ie im Leben tun. Und sie glaubte ihm. Es war das erste Mal, dass dieser schöne junge Mann mit den breiten Schultern, der sie kaum ein Jahr zuvor zum Tanzen ausgeführt hatte, plötzlich ein anderer wurde, sich verwandelte, in etwas Unheimliches, das mit den Jahren immer stärker werden sollte und immer häufiger, wie ein anmaßender Doppelgänger, sein schönes Lächeln vertrieb. Jenes Lächeln, das schließlich nur dann noch erstrahlt war, wenn er, von der anderen Seite der Glasscheibe aus, seine Kinder zu Besuch kommen sah.
    Die Küste lag schon in der Ferne, während sich die Insel erst als undeutliche Schablone am Horizont zeigte. Zwischen diesen beiden Punkten war nichts als Wasser und Himmel. Aber eben dorthin, auf diesen Triumph des Elementaren, richtete Luisa den Blick und spürte dabei eine innerliche Ruhe, die jener ähnelte, die sie nach einem langen Tag harter Arbeit überkam. Nur die Erschöpfung fehlte.
    Dass die Insel schon nahe war, bemerkte sie daher zunächst nicht mit dem Blick, der abgewandt war, sondern mit dem Geruchssinn. Die Luft, die sie erfasste, war mit unbekannten, fast würzigen Düften gesättigt, die aber nichts gemein hatten mit dem Geruch von Wäl dern und Heu, in dem sie aufgewachsen war. Sie drehte sich um und sah, dass sie fast schon am Ziel waren.
    Mit verschiedenen kleinen Buchten, die sich zu einer Schlangenlinie reihten, erhob sich die Insel aus dem Meer. Manche besaßen Strände mit weißem Sand, vor denen das Meer eine türkisblaue Tönung annahm. Andere wurden durch zerklüftete rosafarbene Felsen geformt, deren Umrisse auch unter der Oberfläche in dem kristallklaren Wasser genau zu erkennen waren. In einer geschützten Einbuchtung ragte eine kleine Mole ins Meer, vor einer Ansammlung niedriger Häuser, die in fröhlichen, hellen Farben gestrichen waren: lind grün, himmelblau, rosa. Dazwischen sprossen Agaven, Bougainvilleen, Kaktusblüten.
    Nichts deutete auf ein Gefängnis hin.
    Anders als Luisa, kam Paolo bereits zum vierten Mal auf diese Insel, und er hasste sie. Er verabscheute diesen durchdringenden Duft, die schwarzen Seeigel, die gut sichtbar die Klippen unter dem Wasserspiegel tüpfelten, die Pastellfarben der Häuser. Konnte der Besucher eines Hochsicherheitsgefängnisses überhaupt diese ganze Schönheit der Schöpfung wahrnehmen, die ihn hier empfing? Ja, das konnte er. Aber eben das war auch der Betrug, absurd und grausam.
    Emilia hatte das Meer immer geliebt, ebenso wie Paolo selbst eigentlich auch. Bald schon nach ihrer Heirat hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, den Sommer in einem kleinen Ort an der Küste etwas nördlich der Cinque Terre zu
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