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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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Neues eingeführt hat (desgleichen seit der Romantik, vielleicht auch schon seit dem Manierismus, der Künstler). Nicht so der Mann des Mittelalters, er tut genau das Gegenteil. Darum erscheint die mittelalterliche Kulturdebatte, von außen betrachtet, wie ein enormer Monolog ohne Differenzen, denn alle bemühen sich, immer dieselbe Sprechweise zu gebrauchen, dieselben Zitate, dieselben Argumente, denselben Wortschatz, und dem fremden Zuhörer kommt es vor, als sagten alle immer dasselbe – genau wie dem, der heute in eine Versammlung linker Studenten gerät oder die Presse der außerparlamentarischen Gruppen liest (oder auch die Schriften der chinesischen Kulturrevolution).
    In Wahrheit erkennt der Spezialist für mittelalterliche Probleme fundamentale Unterschiede, so wie der erfahrene Politiker heute mühelos Differenzen und Abweichungen zwischen den einzelnen Diskussionsbeiträgen erkennt und sein Gegenüber sofort in die eine oder andere Fraktion einzuordnen vermag. Der mittelalterliche Gelehrte weiß nämlich sehr genau, daß man mit der Auctoritas machen kann, was man will: »Die Autorität hat eine Nase aus Wachs, die man nach Belieben verformen kann«, sagte Alain de Lille im 12. Jahrhundert. Aber schon vor ihm hatte Bernhard von Chartres gesagt: »Wir sind wie Zwerge auf den Schultern von Riesen« – die Riesen sind die unbestreitbaren Autoritäten von einst, die soviel klarer und weiter sahen als wir; aber wir, so klein wir auch sein mögen, sehen, wenn wir uns auf sie stützen, noch weiter.
    Es gab mithin auf der einen Seite durchaus das Bewußtsein, daß man Neues erfand und Fortschritte machte, andererseits mußten die Neuerungen auf einem kulturellen Corpus aufbauen, der ihnen sowohl ein paar unbestreitbare Überzeugungen garantierte als auch eine gemeinsame Sprache. Und das war nicht nur Dogmatismus (auch wenn es oft einer wurde), sondern es war die Art und Weise, in welcher der Mann des Mittelalters auf das Chaos und den kulturellen Zerfall des untergehenden Römertums reagierte, auf das Gewimmel von Ideen, Religionen, Verheißungen, Sprachen und Redeweisen der hellenistischen Welt, in der sich jeder mit seinem Schatz an Wissen allein fand. Das erste, was damals getan werden mußte, war das Wiederherstellen einer Thematik, einer Rhetorik und eines gemeinsamen Wortschatzes, an dem man sich zu erkennen vermochte, andernfalls hätte man nicht mehr kommunizieren können noch gar (worauf es ankam) eine Brücke zwischen Intellektuellen und Volk schlagen – was die mittelalterlichen Intellektuellen, paternalistisch und auf ihre Weise, im Unterschied zu den griechischen und den römischen taten.
    Die Haltung der jungen politischen Gruppen heute ist genau von derselben Art, sie stellt die Reaktion dar auf den Zerfall der romantisch-idealistischen Originalitätsvorstellung und auf den Pluralismus der liberalen Ansichten, verstanden als ideologische Hüllen, die unter der Patina ihrer Meinungs- und Methodenvielfalt die eherne Einheitlichkeit der ökonomischen Herrschaft verbergen. Die Suche nach heiligen Texten (ob von Marx oder Mao, von Che Guevara oder von Rosa Luxemburg) hat in erster Linie diese Funktion: Wiederherstellung einer gemeinsamen Diskussionsbasis, eines Corpus von anerkennbaren Autoritäten, auf dem man das Spiel der Differenzen und der sprengenden Vorschläge austragen kann. Und zwar mit einer ganz und gar mittelalterlichen, dem Geist des modernen Bürgertums genau entgegengesetzten Demut: Entscheidend ist nicht die Persönlichkeit dessen, der vorschlägt, und der Vorschlag darf nicht als individuelle Entdeckung durchkommen, sondern nur als Ergebnis einer kollektiven, stets und streng anonymen Entscheidung. Darum verläuft eine Vollversammlung linker Studenten heute wie eine »quaestio disputata«: eine scholastische Disputation, die dem Außenstehenden vorkam wie ein monotones byzantinisches Spiel, während in ihr nicht bloß die großen Schicksalsfragen der Menschheit diskutiert wurden, sondern Probleme, die das Eigentum und die Verteilung des Reichtums betrafen, das Verhältnis zum Fürsten oder auch die Natur der beweglichen Körper auf Erden und der unbeweglichen Himmelskörper.
    10. Die Formen des Denkens
    Wechseln wir rasch die Szene (nach wie vor in der Gegenwart), ohne jedoch die Parallele zum Mittelalter auch nur einen Fingerbreit zu verlassen: Wir sitzen in einem Hörsaal, und Noam Chomsky zerlegt unsere Sätze grammatikalisch in
    Atombestandteile, die sich binomisch verzweigen,
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