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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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zwingend geboten, Äquivalente der alten Klostergemeinschaften zu entwik-keln, die sich ab sofort inmitten des allgemeinen Verfalls darin üben, die wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse, die zur Heraufkunft einer neuen Renaissance erforderlich sind, zu wahren und weiterzugeben. Wie diese Kenntnisse organisiert werden können, wie man verhindert, daß sie im Laufe der Weitergabe verkommen oder von gewissen Gruppen zu partikulären Zwecken mißbraucht werden, diese und andere Probleme sind das Thema der letzten (und großenteils anfechtbaren) Kapitel des Buches vom »Mittelalter in naher Zukunft«. Doch die Frage ist, wie ein-gangs erwähnt, eine andere: Vor allem gilt es zu klären, ob Vaccas Szenario eine apokalyptische Zukunftsvision darstellt oder eine Emphatisierung von Prozessen, die bereits laufen. Im weiteren geht es darum, den Begriff des Mittelalters von der negativen Aura zu befreien, die ihm eine gewisse Kulturpublizistik im Geiste der Renaissance umgehängt hat. Versuchen wir also zunächst zu klären, was unter Mittelalter zu verstehen ist.
    2. Alternativprojekt eines Mittelalters
    Als erstes stellen wir fest, daß der Ausdruck zwei recht verschiedene Zeitabschnitte umfaßt: Der eine reicht vom Zerfall des Weströmischen Reiches bis zur Jahrtausendwende und ist eine Zeit der Krise, des Niedergangs, der gewaltsamen Einnistung ganzer Völker und des Zusammenpralls von Kulturen; der andere reicht von der Jahrtausendwende bis zum Beginn der Epoche, die man in der Schule als Humanismus bezeichnet, und nicht zufällig sehen ihn viele Historiker schon wieder als eine Zeit der Blüte; ja sie sprechen sogar von drei Renaissancen, einer karolingischen, einer zweiten im 11. und 12. Jahrhundert und einer dritten, die wir als die »eigentliche« Renaissance zu sehen gewohnt sind.
    Angenommen, es gelänge, das Mittelalter synthetisch in eine Art abstraktes Modell zu fassen: welcher der beiden Phasen entspräche dann unsere Zeit? Jede Suche nach einer Punkt für Punkt genauen Entsprechung wäre naiv, schon weil wir in einer Zeit leben, in der sich die Prozesse enorm beschleunigt haben; was heute in fünf Jahren geschieht, kann einer Entwicklung entsprechen, die damals fünf Jahrhunderte brauchte. Außerdem hat sich das »Zentrum der Welt« auf den ganzen Globus erweitert, heutzutage leben Kulturen, Zivilisationen und verschiedene Entwicklungsstadien miteinander, und in Begriffen des Alltagsverstandes sind wir geneigt, von »mittelalterlichen Verhältnissen« in einem Land wie Bengalen zu sprechen, während wir etwa New York als ein blühendes Babylon sehen oder Peking als das Modell einer neuen Renaissancekultur. Folglich muß der Vergleich, wenn er angestellt werden soll, zwischen ausgewählten Momenten und Situationen unserer globalen Zivilisation einerseits und andererseits verschiedenen Momenten eines Geschichtsprozesses, der vom 5. bis zum 14. Jahrhundert der christlichen Ära reichte, gezogen werden.
    Gewiß mag es recht akademisch erscheinen, einen bestimmten geschichtlichen Augenblick (heute) mit einem Zeitraum von beinahe einem Jahrtausend zu vergleichen, und akademisch wäre es auch, wenn es dabei bliebe. Doch wir versuchen hier, eine Art hypothetisches »Projekt Mittelalter« zu entwickeln (gleichsam als wollten wir uns ein Mittelalter errichten und überlegten nun, welche Zutaten nötig sind, um ein möglichst plausibles und lei-stungsfähiges herzustellen).
    Freilich wird dieses Projekt oder Modell die charakteristischen Merkmale aller im Labor erzeugten Geschöpfe haben: Es wird das Ergebnis einer Auswahl sein, und die Auswahl wird von einem Ziel abhängen. In unserem Fall ist das Ziel die Herstellung eines historischen Bildes, an dem wir Tendenzen und Situationen unserer Zeit messen können. Es wird ein Spiel im Labor sein, aber niemand hat je im Ernst behauptet, daß Spiele nutzlos seien.
    Spielend lernt das Kind, sich in der Welt zurechtzufi nden, eben weil es in der Fiktion durchspielt, was es in der Wirklichkeit später zu tun gezwungen sein wird.
    Was brauchen wir alles, um ein gutes Mittelalter zu fabrizieren?
    Vor allem zunächst einen Großen Frieden, der brüchig zu werden beginnt, eine Weltmacht, die den vorhandenen Weltkreis als Sprache, als ein Ensemble von Sitten und Bräuchen, Ideologien und Religionen, Kunst und Technik vereinigt hatte und die nun an einem bestimmten Punkt aufgrund ihrer eigenen unregier-baren Komplexität zerfällt. Sie zerfällt, weil an den Grenzen
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