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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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folgenreichen industriellen Revolution defi niert hat. Im Laufe von drei Jahrhunderten wurden die Steigbügel und das Kummet erfunden, das die Leistung der Zugpferde potenzierte, die Windmühle und das frei bewegliche Heckruder, das den Schiffen ein Kreuzen gegen den Wind erlaubte. So unwahrscheinlich es klingen mag, dem Durchschnittsmenschen boten sich wenige Chancen in seinem Leben, die benachbarte Stadt zu sehen, aber viele, nach Santiago de Compostela oder Jerusalem zu gelangen. Das mittelalterliche Europa war von Pilgerstraßen durchzogen (die es säuberlich in seinen frommen Reiseführern verzeichnete, in denen die Abteikirchen aufgeführt wurden wie heute die Motels und Hiltons), ähnlich wie der moderne Himmel von Fluglinien, die uns leichter nach New York bringen als in die hundert Kilometer entfernte Nachbarstadt.
    Man könnte hier einwenden, daß die halbnomadische mit-
    telalterliche Gesellschaft eine Gesellschaft des unsicheren und gefahrvollen Reisens war; aufbrechen hieß sein Testament machen (man denke an den alten Vercors in Claudels Verkündigung), und reisen hieß riskieren, auf Räuber, Vagantenhorden und wilde Tiere zu stoßen. Doch das Ideal des modernen Reisens als einer Spitzenleistung von Sicherheit und Komfort ist inzwischen nachhaltig ramponiert: Beim Einsteigen in einen Jet, nachdem man die vielfältigen Kontrollen und Durchsuchungen gegen Flugzeugentführungen hinter sich hat, beschleicht einen heute schon wieder ziemlich genau das alte Gefühl der Unsicherheit in einer Welt voll Gefahren, und vermutlich wird es in Zukunft noch wachsen.
    7. Die Insecuritas
    »Unsicherheit« ist ein Schlüsselbegriff, das Gefühl des Ungeborgenseins in der Welt gehört in den Rahmen der »millenaristischen« oder chiliastischen Endzeitängste: Die Welt ist dem Untergang nahe, eine fi nale Globalkatastrophe wird das Millennium beenden. Die berühmten »Schrecken des Jahres Tausend« sind zwar eine Legende, wie inzwischen bewiesen ist, aber bewiesen ist auch, daß die Angst vor dem Ende das ganze 10. Jahrhundert durchzog (bis auf die letzten Jahre, in denen die Psychose bereits überwunden war). Was unsere heutige Zeit betrifft, so genügen die wiederkehrenden Themen der nuklearen und der ökologischen Katastrophe, um starke apokalyptische Strömungen anzuzeigen. Als utopisches Korrektiv gab es damals die Vorstellung der »renovatio imperii«, das heißt der Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches, wie heute die ziemlich wandel-bare Idee der »Revolution«, beide mit soliden realen Aussichten, nur daß die Realisierung am Ende vielleicht ein bißchen anders aussieht als das ursprüngliche Projekt (die Unsicherheit wurde diszipliniert, aber nicht durch das erneuerte Reich, sondern durch die kommunale Renaissance und die Nationalmonarchien).
    Doch Unsicherheit ist nicht nur ein »historisches« Phänomen, sondern auch ein »psychologisches«, sie verbindet sich mit der Beziehung des Menschen zur Landschaft und des Einzelnen zur Gesellschaft. Wer nachts durch die Wälder irrte, sah sie von bösen Geistern bewohnt, man wagte sich nicht so leicht vor die Tore der Stadt, man ging bewaffnet – eine Situation, an die der New Yorker sich heute gewöhnt, der nach Einbruch der Dämmerung keinen Fuß mehr in den Central Park setzt, der aufpaßt, daß er nicht aus Versehen eine Subway nach Harlem besteigt und nach Mitternacht nicht mehr allein in der Subway fährt und wenn er eine Frau ist, auch vorher nicht. Unterdessen, während die Ordnungskräfte beginnen, das Räubertum durch unterschiedslose Massaker an Guten und Schlechten zu unterdrücken, kommt die Praxis der »revolutionären Enteignung« und der Entführung von Botschaftern auf – ähnlich wie einst ein Kardinal mit seinem ganzen Gefolge von jedem besseren Robin Hood gefangenge-nommen werden konnte, zum Austausch gegen ein paar fröhliche Waldgenossen, denen der Galgen drohte.
    Letzter Pinselstrich am Tableau der kollektiven Unsicherheit: Heute wie damals, im Unterschied zu den Gepfl ogenheiten der bürgerlich-liberalen Staaten, werden die Kriege nicht mehr er-klärt (außer im nachhinein, wenn der Konfl ikt beendet ist, siehe Indien und Pakistan), so daß man nie weiß, ob man sich schon im Kriegszustand befi ndet oder noch nicht. Im übrigen braucht man bloß nach Livorno, nach Verona oder nach Malta zu gehen (oder nach Heidelberg, Ramstein, Mutlangen, Garmisch etc. A.d.Ü.), um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, daß Truppen des Reiches als
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