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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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angelsächsischer Zunge, der in Robinson Crusoe sein erstes Epos gefunden hatte und in Max Weber seinen Vergil.
    Gewiß, in den Villen und Bungalows von Suburbia verkörpert der mittlere Angestellte mit Bürstenhaarschnitt noch den aufrechten Römer, aber sein Sohn läuft bereits mit langen Indianerhaaren und mexikanischem Poncho herum, spielt die indische Sitar, liest buddhistische Texte oder leninistische Fibeln und bringt es oft fertig (ähnlich wie seine Vorfahren im zer-fallenden Römischen Reich), mit gleicher Inbrunst Hermann Hesse, die Tierkreiszeichen, die Alchimie, das Mao-Tsetung-Denken, den Marihuana-Joint und die Stadtguerilla-Techniken zu verehren; man lese nur Jerry Rubins Do it! oder denke an die Programme der »Alternate University«, die vor zwei Jahren in New York Seminare über Marx, die kubanische Ökonomie und die Astrologie veranstaltete. Andererseits läßt sich auch der Vater, dieser letzte noch überlebende Römer, in Momenten der Langeweile auf Spielereien mit Partnertausch ein und erschüttert so das Modell der puritanischen Familie.
    Eingefügt in eine große Korporation (ein zerfallendes
    Großsystem) erlebt dieser Römer mit Bürstenhaarschnitt faktisch bereits die totale Dezentralisierung und Krise der Zentralmacht (oder -mächte), die nur noch eine Fiktion ist (wie einst das späte Imperium) und ein System von immer abstrakteren Prinzipien.
    Man lese die einschlägigen Analysen der Gesellschafts- und Politikwissenschaftler, zumal den beeindruckenden Essay des italienischen Soziologen Furio Colombo (Potere, gruppi e confl it-to nella società neofeudale * ), aus dem die Zeitgenossenschaft einer typisch neo-medievalen Situation sehr klar hervorgeht. Aber auch ohne Soziologie zu betreiben wissen wir alle, in welchem Maße bei uns die Regierungsentscheidungen oft nur noch formaler Natur sind – im Gegensatz zu den scheinbar peripheren Entscheidungen großer Konzerne, die nicht zufällig schon beginnen, sich ihre privaten Telefonnetze zu schaffen, womöglich unter Benutzung der öffentlichen, und ihre privaten Hochschulen, fi nalisiert zur Erzeugung brauchbarerer Resultate, als sie angesichts des Scheiterns der staatlichen Bildungspolitik zu erwarten sind.
    Und in welchem Maße heutzutage die Politik des Pentagon oder des FBI ganz unabhängig von der des Weißen Hauses vorgehen kann, steht jeden Tag in den Zeitungen.
    »Der Handstreich der technologischen Macht hat die
    Institutionen ausgehöhlt und das Zentrum der sozialen Struktur veröden lassen«, schreibt Colombo, und die Macht »organisiert sich offen außerhalb der zentralen und mittleren Zone des sozialen Körpers«. Sie verlagert sich immer mehr »in eine von allgemeinen Aufgaben und Verantwortlichkeiten freie Zone und enthüllt damit offen und unversehens den akzessorischen Charakter der Institutionen«.
    Appelle erfolgen nicht mehr unter Berufung auf amtliche Hierarchien oder staatlich kodifi zierte Funktionen, sondern unter Berufung auf ein Prestige und effektive Pressionen.
    Colombo zitiert den Fall der New Yorker Gefängnisrevolte vom Oktober 1970, als die institutionelle Autorität in Gestalt von Oberbürgermeister John Lindsay nur noch durch Appelle zur Mäßigung eingreifen konnte, während der Ausgleich – zwischen Gefangenen und Wärtern zuerst, dann zwischen Journalisten und Gefängnisbehörden – effektiv durch Vermittlung des Fernsehens erfolgte.
    4. Vietnamisierung des Territoriums
    Im Wechselspiel dieser privaten Interessen, die sich selbst ver-walten und dabei zu Kompromissen und Gleichgewichten gelangen können, geschützt von Privatpolizeien und Söldnertruppen und ausgerüstet mit eigenen rundum befestigten Sammel- und Verteidigungszentren, erleben wir heute das, was Colombo eine fortschreitende »Vietnamisierung der Territorien« nennt, das heißt eine zunehmende Einigelung und Befestigung der privaten Reviere gegen die Schläge neuer Freikorps (wer oder was sind die »Minutemen« und die »Black Panthers«?). Man probiere nur einmal, mit einer Maschine der TWA in New York zu landen: Man kommt in eine völlig private Welt, eine selbst-verwaltete Kathedrale, die nicht das geringste mit dem Terminal der PanAm zu tun hat. Die Zentralmacht, von der TWA besonders stark unter Druck gesetzt, liefert der Fluggesellschaft eine schnellere Paß- und Zollabfertigung als den anderen. Fly TWA and you enter United States in fi ve minutes! – mit anderen Fluggesellschaften braucht man dafür eine Stunde. Alles hängt davon
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