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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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Dauerbesatzung in unseren nationalen Gebieten stehen, und es handelt sich um gemischtsprachige Armeen mit Befehlshabern, die ständig versucht sind, ihre Macht zu benutzen, um auf eigene Rechnung Kriege zu führen (oder Politik zu machen).
    8. Die Vagantes
    Durch diese weiten Gebiete der Insecuritas ziehen Banden von Ausgestoßenen und Ausgestiegenen, Mystikern oder Abenteurern.
    Abgesehen davon, daß in der allgemeinen Hochschulkrise die Studenten sich als Vagantes rekonstituieren, ihre »natürlichen Lehrer« ablehnen und sich nur noch auf unbestallte Meister berufen, haben wir einerseits Hippiebanden, regelrechte Bettelorden, die von der öffentlichen Mildtätigkeit leben auf der Suche nach einer mystischen Seligkeit (ob durch Drogen oder durch göttliche Gnade macht kaum einen Unterschied, schon weil allerlei nichtchristliche Religionen durch die Falten der chemischen Seligkeit lugen). Die lokale Bevölkerung lehnt sie ab und verfolgt sie, und wenn dann der Bruder vom Blumenorden aus allen Jugendherbergen vertrieben ist, mag er schreiben, es herrsche hienieden eitel Freude. Genau wie im Mittelalter ist die Grenze zwischen dem Mystiker und dem Halsabschneider oft minimal, und Charles Manson ist nichts anderes als ein Mönch, der sich, wie seine Vorfahren, etwas zu sehr auf satanische Riten eingelassen hat (andererseits werden auch Mächtige, wenn sie den Argwohn der effektiv Herrschenden wecken, wie es den Templern unter Philipp dem Schönen erging, in Sittenskandale und/oder Landesverratsaffären verwickelt). Mystische Ekstase und diabolischer Ritus liegen nah beieinander, und Gilles de Rais, der bei lebendigem Leibe verbrannt wurde, weil er zu viele Kinder gefressen hatte, war ein Waffengefährte der hl. Guerillera Jeanne d’Arc, einer charismatischen Führergestalt wie Che.
    Andere den Bettelorden verwandte Formen werden dagegen auf anderen Gebieten von politisierenden Gruppen beansprucht, der Moralismus vieler »marxistisch-leninistischer« Bruderschaften mit seiner Berufung auf Armut, Sittenstrenge und »Dienst am Volk« hat mönchische Wurzeln.
    Wenn die Parallelen unklar erscheinen, denke man an die enorme Differenz, die unter dem Anschein des frommen Äußeren zwischen kontemplativen und arbeitsscheuen Mönchen bestand: Mönchen, die in der Abgeschiedenheit ihrer Klöster wüst aufein-ander einschlugen, aktivistische und populistische Franziskaner, doktrinäre und verbissene Dominikaner, aber allesamt mehr oder minder freiwillig ausgestiegen aus dem normalen gesellschaftlichen Zusammenhang, den sie als dekadent, diabolisch, Nährboden für Neurosen und »Entfremdung« abtaten. Diese Gemeinschaften von Erneuerern, hin- und hergerissen zwischen hektischer Aktivität im Dienst der Entrechteten und heftiger theologischer Diskussion, zerfl eischten einander mit gegenseitigen Häresievorwürfen und übereinandergestapelten Exkommunikationen. Jede Gruppe machte sich ihre eigenen Dissidenten und Häresiarchen zurecht, und die wilden Attacken, die Franziskaner und Dominikaner gegeneinander ritten, sind nicht unähnlich denen, die zwischen Trotzkisten und Stalinisten toben – und das ist nicht stammtischgeschwätzhafterweise ein Zeichen für wüste Unordnung und »Chaotentum«, sondern im Gegenteil Zeichen für eine Gesellschaft, in welcher neue Kräfte nach neuen Bildern des kollektiven Lebens suchen und dabei entdecken, daß sie diese Bilder nicht anders durchsetzen können als im Kampf gegen die etablierten »Systeme« durch Ausübung einer bewußten und rigorosen theoretisch-praktischen Intoleranz.
    9. Die Auctoritas
    Es gibt einen Aspekt der mittelalterlichen Zivilisation, den uns eine aufgeklärte, laizistische und liberale Sicht durch übertrieben scharfe Polemik zu deformieren und als schlimmes Übel zu sehen verleitet hat, nämlich die Praxis des Rückgriffs auf die Auctoritas.
    Der mittelalterliche Gelehrte tut immer so, als habe er überhaupt nichts Neues erfunden oder entdeckt, und beruft sich ständig auf frühere Autoritäten. Es können die Patres der Ostkirche sein, es können Augustinus, Aristoteles oder die Heilige Schrift sein oder auch Gelehrte, die kaum hundert Jahre alt sind, aber nie darf er etwas Neues vorbringen, ohne es hinzustellen als etwas, das schon vor ihm jemand gesagt hat. Wenn wir es recht bedenken, ist es genau das Gegenteil dessen, was man seit Descartes in der aufgeklärten Moderne tut, in welcher bekanntlich der Philosoph oder Wissenschaftler nur dann etwas gilt, wenn er etwas
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