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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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oder Roman Jakobson reduziert die phonologischen Emissionen auf binäre Züge, oder Claude Lévi-Strauss strukturiert die Verwandtscha ftsbeziehungen und das Gefl echt der Mythen in antinomische Spiele, oder Roland Barthes liest Balzac, de Sade und Ignatius von Loyola, wie der mittelalterliche Gelehrte Vergil las, nämlich indem er gegensätzliche und symmetrische Illusionen aufspürt.
    Nichts kommt dem mittelalterlichen intellektuellen Spiel näher als die strukturalistische Logik, so wie ihm, aufs ganze gesehen, nichts näher kommt als der Formalismus der heutigen physikalischen und mathematischen Logik. Daß sich auf ein und demselben Gebiet im Mittelalter Parallelen sowohl zur dialektischen Debattierweise der Politiker heute als auch zur tendenziell mathematischen Deskriptionsweise in der heutigen Wissenschaft fi nden, darf uns nicht wundern, da wir ja eine lebendige Wirklichkeit mit einem kondensierten Modell vergleichen; aber in beiden Fällen, damals wie heute, handelt es sich um zwei Annäherungsweisen an die Realität, die keine befriedigende Parallele in der Kultur des modernen Bürgertums haben und die beide mit einem Rekonstitutions- oder Neugestaltungsprojekt zusammenhängen, angesichts einer Welt, deren offi zielles Bild abhanden gekommen ist oder abgelehnt wird.
    Der Politiker argumentiert subtil, gestützt auf die Autoritäten, um ausgehend von theoretischen Grundlagen eine formen-de Praxis zu stiften; der Wissenschaftler versucht, durch Distinktionen und Klassifi zierungen neue Formen für ein kulturelles Universum zu fi nden, das (wie das griechisch-römische) an zuviel Originalität explodiert ist, am Zusammenfl uß allzu vieler verschiedener Neuerungen aus Orient und Okzident, Magie, Religion und Recht, Poesie, Medizin und Physik. Es geht um den Aufweis, daß Abszissen des Denkens existieren, die uns erlauben, Moderne und Primitive im Zeichen ein und derselben Logik zu begreifen. Die formalistischen Exzesse und die antihistorische Neigung des Strukturalismus sind die gleichen wie die der scholastischen Diskussionen im Mittelalter, desgleichen muß die pragmatische und verändernde Spannkraft der Revolutionäre (die damals Reformatoren hießen oder schlicht Ketzer) sich heute wie damals auf heftige Theorie-Kontroversen stützen, und jede theoretische Nuancierung impliziert eine andere Praxis. Selbst die Diskussionen zwischen Sankt Bernhard, dem Befürworter einer bildlosen, keuschen und strengen Kunst, und dem Abt Suger von St. Denis, der für die prachtvoll geschmückte, von bildlichen Aussagen strotzende Kathedrale eintrat, fi nden heute Entsprechungen auf diversen Ebenen und diversen Gebieten im Gegensatz zwischen russischem Konstruktivismus und sozialisti-schem Realismus, zwischen Anhängern der abstrakten Malerei und des Neobarock, zwischen rigoristischen Theoretikern der begriffl ichen Kommunikation und McLuhanschen Aktivisten des Weltdorfes der visuellen Kommunikation durch elektronische Medien.
    11. Die Kunst als Bastelei
    Gehen wir nun von den Parallelen in Wissenschaft und Politik zu denen in Kunst und »Bildung« über, so wird das Panorama sehr viel komplexer. Auf der einen Seite haben wir eine ziemlich exakte Entsprechung zwischen den beiden Epochen, die in verschiedenen Modi, aber mit gleichen Erziehungsutopien (und mit gleicher ideologischer Maskierung eines paternalistischen Projekts der Bewußtseinslenkung) die Kluft zwischen elitärer und populärer Kultur durch Einsatz der visuellen Kommunikationsmittel zu überbrücken versuchen. In beiden Epochen räsoniert die Bildungselite anhand der geschriebenen Texte mit buchgläubiger Mentalität, aber dann übersetzt sie die essentiellen Daten des Wissens und die Grundstrukturen der herrschenden Ideologie in Bilder. Das Mittelalter ist eine Zivilisation der Schau, in der die Kathedrale als großes steinernes Buch fungiert und praktisch als Werbeplakat, als Fernsehbildschirm, als mystischer Comic strip, der alles erzählen und alles erklären muß: die Völker der Erde, die Künste und die Berufe, die Tage des Jahres, die Jahreszeiten der Saat und der Ernte, die Mysterien des Glaubens, die Anekdoten der heiligen und der profanen Geschichte und das Leben der Heiligen (der großen Verhaltensvorbilder oder Massenidole, ähnlich den heutigen Film- und Rockstars, eine Elite ohne politische Macht, wie Francesco Alberoni sagen würde, aber mit enormer charismatischer Macht).
    Neben diesem großangelegten Volksbildungsunternehmen
    haben wir auf
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