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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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der anderen Seite die stille Kompositions- und Collage-Arbeit, die von der Bildungselite an den Überresten der vergangenen Kultur verrichtet wird. Man nehme einen Magischen Kasten von Joseph Cornell oder von Arman, eine Collage von Max Ernst, eine Unnütze Maschine von Bruno Munari oder Jean Tinguely, und man befi ndet sich in einer Welt, die nichts mehr mit Raffael oder Canova zu tun hat, aber sehr viel mit dem mittelalterlichen Kunstgeschmack. In der Poesie bezeugen es die Figuren- und Rätselgedichte, die irischen Kenningar, die Akrostika, die verbalen Gefl echte aus vielfältigen Zitaten, die an Pound und Sanguineti erinnern; die absurden etymologi-schen Spiele eines Virgilius von Bigorre oder Isidor von Sevilla, die so ungemein joyceanisch anmuten ( Joyce wußte das), die Zeitkompositionsübungen der Poetiktraktate, die ein Programm für Godard sein könnten, und vor allem die große Vorliebe für Kollektionen und Inventare. Die sich besonders handgreifl ich in den Schatzkammern niederschlug, in denen der weltlichen Fürsten wie denen der Kathedralen, wo unterschiedslos gesam-melt wurden: ein Dorn aus der Krone Jesu, ein Ei, das jemand in einem anderen Ei gefunden hatte, das Horn eines Einhorns, der Verlobungsring des hl. Joseph und der Schädel Johannes’ des Täufers im Alter von zwölf Jahren (sic) .***
    Es herrschte eine totale Indifferenz zwischen ästhetischem und mechanischem Objekt (ein kunstvoll ziselierter Automat in Form eines krähenden Hahns wurde Karl dem Großen von Harun al Raschid geschenkt – ein kinetisches Kleinod, wenn es je eines gab), man unterschied nicht zwischen »Kreation« und Kuriosität, nicht zwischen Handwerk und Kunst, nicht zwischen Serienprodukt und Einzelstück und vor allem nicht zwischen sel-tenem Fundstück (der Walfi schzahn gleich der Jugendstillampe) und Kunstwerk. Zudem war das Ganze beherrscht vom Sinn für die grelle Farbe und für das Licht als physisches Element des Vergnügens – nur mußten es damals goldene Kelche sein, besetzt mit Topasen, damit die Strahlen der Sonne, wenn sie durch ein Kirchenfenster einfi elen, sich darin brachen, und heute tut es die Lichtorgel einer x-beliebigen Glitzerdisco, die Multimedia-Show mit wechselnden, schummrig-bunten Polaroidprojektionen.
    Huizinga meinte, um den mittelalterlichen Kunstgeschmack zu verstehen, müsse man sich die Reaktion eines »staunenden Bürgersmannes« vor einer seltenen Kostbarkeit vorstellen.1
    Huizinga dachte in Begriffen einer nachromantischen Sensibilität für das Kunstschöne, heute fi nden wir ganz dieselbe Reaktion bei Jugendlichen vor einem Poster, auf dem ein Dinosaurier oder ein Motorrad dargestellt ist, oder vor einem transistorisierten Magischen Kasten mit blinkenden Punkten und rotierenden Strahlen, halb technisches Miniaturmodell, halb futuristischer Science-fi ction-Traum, mit Komponenten barbarischer Goldschmiedekunst.
    Nicht systematische, sondern additive und zusammenge-
    bastelte Kunst ist die unsere wie die des Mittelalters, heute wie damals koexistiert das verfeinerte Experiment der Elite mit dem Großunternehmen der populären Divulgation (das Verhältnis Miniatur/Kathedrale ist das gleiche wie zwischen Museum of Modern Art und Hollywood) mit permanenten
    Wechselbeziehungen und gegenseitigen Anleihen. Und der scheinbare Byzantinismus, die wilde Lust am Sammeln, Aufl isten, Anhäufen der verschiedensten Dinge entspringt dem Bedürfnis, die Überreste einer früheren Welt zu sichten und neuzubewer-ten – einer Welt, die vielleicht harmonisch war, aber nun zerfallen ist, erlebbar nur noch, um mit Sanguineti zu sprechen, wie eine Palus Putredinis, ein Sumpf der Fäulnis, den man durchquert und vergessen hat. Während Fellini und Antonioni ihre Höllen erproben und Pasolini sein Decamerone (und Ronconis Orlando ist durchaus kein Renaissancefest, sondern ein mittelalterliches Mysterienspiel auf der Straße und für das kleine Volk), bemü-
    hen sich andere verzweifelt, die alte Kultur zu retten, wähnend, sie hätten dazu ein intellektuelles Mandat, und so häufen sich die Enzyklopädien, Gesammelten Werke und elektronischen Informationsspeicher, um der Nachwelt einen Wissensschatz zu tradieren, der Gefahr läuft, sich in der Katastrophe aufzulösen.
    12. Die Klöster
    Nichts ist ähnlicher einem Kloster (abgelegen irgendwo auf dem Lande, ummauert, heimgesucht von barbarischen Horden, bewohnt von Mönchen, die mit der Welt nichts zu tun haben wollen und sich ausschließlich ihren
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