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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt
Autoren: Umberto Eco
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unglaublichsten aber war, daß Superman, um sich die vergangenen Abenteuer erinnernd zu vergegenwärtigen, sie in Form von Wachsfi guren reproduzierte, lebensgroß wie im Kabinett der Madame Tussaud, eine eher makabre Vorstellung. Freilich gab es damals noch nicht die hyperrealistischen Statuen eines Duane Hanson, aber auch später war man geneigt, die Hyperrealisten für besonders ausgefallene Avantgardisten zu halten, die lediglich auf die herrschenden Abstraktionstendenzen oder die Deformationen der Pop Art reagierten. So schien es den Lesern von Superman, daß seine musealen Schrullen keine realen Entsprechungen in Geschmack und Mentalität des Durchschnittsamerikaners hatten.
    Dabei gibt es in Amerika viele Festungen der Einsamkeit mit ihren Wachsfi guren, ihren Robotern und ihren Sammlungen kurioser Wunder. Man braucht nur die Grenzen des Museum of Modern Art und der Kunstgalerien zu überschreiten,
    und schon gelangt man in eine andere Welt: in die Welt der Durchschnittsfamilie, der Touristen und der Politiker.
    Die erstaunlichste Festung der Einsamkeit hat sich in Austin, Texas, der ehemalige Präsident Johnson noch zu Lebzeiten als persönliches Denkmal, Pyramidengrab und Mausoleum errichtet.
    Ich spreche hier gar nicht von dem riesigen Bau im modern-im-perialen Stil, auch nicht von den vierzigtausend roten Behältern, die sämtliche Dokumente seines politischen Lebens enthalten, nicht von der halben Million dokumentarischer Photographien, den Porträts, der Stimme von Mrs. Johnson, die den Besuchern das Leben ihres verstorbenen Gatten erzählt. Ich spreche vielmehr von den aufgehäuften Erinnerungsstücken aus der Schulzeit des Großen Mannes, von den Photos der Hochzeitsreise, den Filmen über die Auslandsreisen des Präsidenten-Ehepaares, die den Besuchern pausenlos vorgeführt werden, von den Wachsfi guren, angetan mit den Hochzeitskleidern der Töchter Lucy und Linda, von der lebensgroßen Reproduktion des »Oval Room«, des präsidialen Arbeitszimmers im Weißen Haus, von den roten Schuhen der Tänzerin Maria Tallchief, dem Namenszug des Pianisten Van Cliburn auf einer Partitur, dem Federhut, den Carol Channing in »Hello Dolly« trug (lauter Souvenirs, deren Präsenz dadurch gerechtfertigt ist, daß die betreffenden Künstler sich im Weißen Haus produziert hatten), von den Gastgeschenken der Repräsentanten verschiedener Staaten, von der indianischen Federhaube, den Porträts aus Streichhölzern, den Gedenktafeln in Form eines Cowboyhutes, den Zierdeckchen, bestickt mit der amerikanischen Flagge, dem Schwert des Königs von Thailand und dem Mondstein, den die Astronauten mitge-bracht hatten. Die Lyndon B. Johnson Library ist eine Festung der Einsamkeit: Wunderkammer, naives Beispiel von Narrative Art, Wachsfi gurenkabinett, Roboterhöhle. Und sie verdeutlicht einen Grundzug der Einbildungskraft und Geschmacksvorstellung des Durchschnittsamerikaners, für den die Vergangenheit in Gestalt perfekter Kopien, lebensgroß, Format eins zu eins, konserviert und zelebriert werden muß: eine Philosophie der Unsterblichkeit als Verdoppelung. Sie beherrscht das Verhältnis zum eigenen Ich, zur eigenen Vergangenheit, nicht selten zur eigenen Gegenwart, stets zur Geschichte und im Grenzfall zur europäischen Tradition.
    Wer den Oval Room des Weißen Hauses im Maßstab eins
    zu eins nachbaut (und zwar mit den gleichen Materialien und in den gleichen Farben, nur selbstverständlich frischer lackiert, blitzblank, dem Verfall entzogen), drückt damit aus, daß die historische Information, um »anzukommen«, die Form einer Reinkarnation annehmen muß. Um von Dingen sprechen zu können, die man als echt empfi nden will, müssen sie echt erscheinen.
    Das »ganz Wahre« wird identisch mit dem »ganz Falschen«. Das absolut Unwirkliche präsentiert sich als wirklich Vorhandenes.
    Im Nachbau des Oval Room steckt der Wille, ein »Zeichen« zu setzen, das seinen Zeichencharakter vertuscht: Das Zeichen will selber die »Sache« sein, es will die Differenz der Verweisung auf-heben, die Mechanik der Substitution. Es will nicht mehr Abbild der Sache sein, sondern ihr Abklatsch oder ihr Duplikat.
    Ist dies das Geschmacksempfi nden Amerikas? Sicher nicht das eines Frank Lloyd Wright, eines Seagram Building von Mies van der Rohe. Sicher nicht das der New Yorker Schule, nicht das eines Pollock. Auch nicht das der Hyperrealisten, die eine so schrei-end echte Realität produzieren, daß sie ihren Fiktionscharakter in alle vier Winde
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