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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit
Autoren: B Akunin
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mir, Herr Intrigant, um was für hoher Ideen willen man einen Menschen töten kann, der einem freundschaftlich gesonnen war.«
    »Ein ausgezeichnetes Gesprächsthema.« Anwar rückte einen Stuhl näher. »Nehmen Sie Platz, Mademoiselle Barbara, wir müssen uns die Zeit vertreiben. Und sehen Sie mich nicht so böse an. Ich bin kein Ungeheuer, sondern nur ein Feind Ihres Landes. Ich möchte nicht, daß Sie mich als seelenloses Monster betrachten, als das mich der übernatürlich scharfsinnige Monsieur Fandorin dargestellt hat. Ihn hätte ich rechtzeitig unschädlich machen müssen. Ja, ich bin ein Mörder. Aber wir sind hier alle Mörder, auch Ihr Fandorin und der verstorbene Surow und Misinow. Und Sobolew ist ein Obermörder, der badet geradezu in Blut. Bei unseren Männerspielen sind nur zwei Rollen möglich: Mörder oder Ermordeter. Machen Sie sich keine Illusionen, Mademoiselle, wir leben alle im Dschungel. Versuchen Sie, mich unvoreingenommen zu sehen und zu vergessen, daß Sie Russin sind und ich Türke bin. Ich habe mir im Leben einen sehr schweren Weg ausgesucht. Sie sind mir nicht gleichgültig. Ich bin sogar ein bißchen verliebt in Sie.«
    Warja, von dem »ein bißchen« unangenehm berührt, runzelte die Stirn.
    »Vielen Dank«, sagte sie.
    »Na ja, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt.« Anwar breitete die Arme aus. »Ich kann mir nicht erlauben, mich ernsthaft zu verlieben, das wäre ein unzulässiger und gefährlicher Luxus. Lassen wir das. Ich möchte lieber Ihre Frage beantworten. Einen Freund betrügen oder töten, dasist eine schwere Prüfung, aber manchmal muß man auch diese Schwelle überschreiten. Ich mußte es tun.« Seine Mundwinkel zuckten nervös. »Wenn man sich ganz einem hohen Ziel verschreibt, muß man persönliche Bindungen opfern können. Um Beispiele zu finden, brauchen wir nicht weit zu gehen. Ich bin überzeugt, daß Sie, ein fortschrittliches Mädchen, revolutionäre Ideen leidenschaftlich bejahen. Ist es nicht so? Bei Ihnen in Rußland haben die Revolutionäre schon angefangen zu schießen. Bald wird ein heimlicher Krieg beginnen, das können Sie einem Profi wie mir glauben. Idealistisch gesonnene Jünglinge und Mädchen werden Paläste, Züge und Kutschen in die Luft sprengen. Darin werden außer dem reaktionären Minister und dem bösen Gouverneur unweigerlich unschuldige Menschen sitzen – Angehörige, Gehilfen, Dienerschaft. Aber um der Idee willen wird das in Kauf genommen. Warten Sie ab. Ihre Idealisten werden sich ins Vertrauen schleichen und spionieren und betrügen und Abtrünnige töten – alles für die Idee.«
    »Und worin besteht Ihre Idee?« fragte Warja scharf.
    »Wenn Sie gestatten, erzähle ich es Ihnen.« Anwar stützte den Ellbogen auf die Stellage mit den Geldsäcken. »Ich sehe Rettung nicht in der Revolution, sondern in der Evolution. Diese muß man nur in die richtige Richtung lenken, man muß ihr helfen. Unser neunzehntes Jahrhundert entscheidet das Schicksal der Menschheit, davon bin ich zutiefst überzeugt. Man muß den Kräften der Vernunft und der Toleranz helfen, die Oberhand zu gewinnen, ansonsten werden in nächster Zukunft schwere und überflüssige Erschütterungen die Erde heimsuchen.«
    »Und wo wohnen Vernunft und Toleranz? In den Besitzungen Ihres Abd ul Hamid?«
    »Natürlich nicht. Ich meine diejenigen Länder, in denender Mensch nach und nach lernt, sich und andere zu achten, nicht mit dem Knüppel, sondern mit der Überzeugung zu siegen, Schwache zu unterstützen, Andersdenkende zu tolerieren. Ach, welch vielversprechende Prozesse entwickeln sich in Westeuropa und in Nordamerika! Ich bin natürlich weit davon entfernt zu idealisieren. Auch dort gibt es viel Schmutz, viele Verbrechen, viel Dummheit. Aber der Gesamtkurs ist richtig. Die Welt muß diesen Weg gehen, sonst versinkt die Menschheit in Chaos und Tyrannei. Der helle Fleck auf der Karte des Planeten ist noch sehr klein, aber er wird rasch größer. Man muß ihn nur vor dem Druck der Finsternis bewahren. Es läuft eine grandiose Schachpartie, und ich spiele darin für die Weißen.«
    »Demnach ist Rußland für die Schwarzen?«
    »Ja. Ihr gewaltiges Reich bildet heute die Hauptgefahr für die Zivilisation – mit seinen weiten Räumen, seiner zahlreichen unwissenden Bevölkerung, seiner schwerfälligen und aggressiven Staatsmaschine. Ich beobachte Rußland schon lange, ich habe die Sprache gelernt, bin viel gereist, habe historische Aufsätze gelesen, habe Ihren Staatsmechanismus
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