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Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)

Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)

Titel: Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Autoren: Kristin Hannah
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    2000
    Lexi Baill studierte eine Karte des Staates Washington, bis ihr die winzige rote Schrift vor den müden Augen verschwamm. Die Ortsangaben hatten etwas Magisches an sich. Sie verwiesen auf eine Landschaft, die sie sich kaum vorstellen konnte: auf schneebedeckte Berge, die sich bis zum Ufer erstreckten, auf Bäume, so hoch und gerade wie Kirchtürme, auf endlosen, strahlend blauen Himmel. Sie stellte sich Adler vor, die auf Telefonmasten saßen, und Sterne, die zum Greifen nahe schienen. Wahrscheinlich tappten nachts Bären durch die stillen Siedlungen und suchten nach Plätzen, die vor nicht allzu langer Zeit noch ihnen gehört hatten.
    Dies war ihre neue Heimat.
    Wie gern wollte sie daran glauben, dass es diesmal anders würde. Aber wie sollte sie? Mit vierzehn wusste sie vielleicht nicht viel, aber eins war gewiss: In diesem System konnte man Kinder zurückgeben wie Altglas oder wie Schuhe, die drückten.
    Am Tag zuvor hatte ihre Betreuerin sie früh geweckt und angewiesen, ihre Sachen zu packen. Wieder einmal.
    »Ich habe gute Neuigkeiten«, hatte Miss Watters gesagt.
    Selbst im Halbschlaf war Lexi klar, was das bedeutete. »Eine neue Familie. Großartig. Danke, Miss Watters.«
    »Nicht nur eine neue Familie. Deine Familie.«
    »Ja. Natürlich. Meine neue Familie. Das wird toll.«
    Miss Watters atmete geräuschvoll aus, ein Seufzer war es nicht, aber fast. »Du warst so lange stark, Lexi.«
    Lexi zwang sich zu einem Lächeln. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, Miss W. Ich weiß, wie schwer es ist, ältere Kinder unterzubringen. Und die Rexlers waren cool. Wenn meine Mom nicht zurückgekommen wäre, hätte es da bestimmt funktioniert.«
    »Es war nie deine Schuld, das weißt du ja.«
    »Ja«, erwiderte Lexi. An guten Tagen konnte sie sich einreden, dass sie zurückgegeben worden war, weil die jeweilige Familie ihre eigenen Probleme hatte. An schlechten Tagen jedoch – und die gab es in letzter Zeit häufiger – fragte sie sich, was mit ihr nicht stimmte. Warum man sie überall loswerden wollte.
    »Du hast Angehörige, Lexi. Ich habe eine Großtante von dir ausfindig gemacht. Ihr Name ist Eva Lange. Sie ist sechsundsechzig und wohnt in Port George, im Staat Washington.«
    Lexi setzte sich auf. »Was? Meine Mom hat behauptet, ich hätte keine Angehörigen.«
    »Da … hat sie sich geirrt. Du hast eine Familie.«
    Ihr ganzes Leben lang hatte Lexi auf diese wenigen kostbaren Worte gewartet. Seit jeher war ihr Dasein gefährdet und ungewiss gewesen, wie ein Schiff, das auf Klippen zusteuert. Sie war praktisch allein aufgewachsen, inmitten von Fremden, wie ein modernes Wolfskind, das um Nahrung und Aufmerksamkeit kämpfen musste und niemals genug bekam. Das meiste davon hatte sie verdrängt, doch wenn sie sich bemühte – wenn einer der staatlichen Seelenklempner sie dazu zwang –, konnte sie sich an Hunger und Kälte erinnern, an Sehnsucht nach einer Mutter, die entweder zugedröhnt oder zu erschöpft war, um sich um sie zu kümmern. Sie wusste noch, wie sie tagelang in einem schmutzigen Laufstall gesessen und weinend darauf gewartet hatte, dass sich jemand an sie erinnerte.
    Jetzt starrte sie aus dem verschmierten Fenster des Überlandbusses. Neben ihr saß ihre Betreuerin und las einen Roman.
    Nach über sechsundzwanzig Stunden Fahrt waren sie endlich fast am Ziel. Draußen lastete eine stahlgraue Wolkendecke auf den Baumwipfeln. Der Regen malte schnörkelige Muster auf die Fensterscheiben und ließ die Sicht verschwimmen. Hier in Washington fühlte man sich wie auf einem anderen Planeten: Verschwunden waren die sonnenverbrannten, karstigen Hügel von Südkalifornien und das graue Zickzackmuster der verstopften Freeways. Die Bäume hier waren überdimensional, genau wie die Berge. Alles wirkte wild und zugewuchert.
    Der Bus fuhr an einem niedrigen Betonbahnhof vor und kam quietschend und ruckend zum Stehen. Eine schwarze Rauchwolke zog an ihrem Fenster vorbei und hüllte kurz den Parkplatz ein, dann zerstob sie im prasselnden Regen. Die Türen des Greyhound-Busses gingen zischend auf.
    »Lexi?«
    Sie hörte Miss Watters’ Stimme und dachte: Los, Lexi, beweg dich, aber sie konnte nicht. Sie blickte auf zu der Frau, die in den vergangenen sechs Jahren ihre einzige verlässliche Bezugsperson gewesen war. Jedes Mal, wenn eine Pflegefamilie kapituliert und Lexi wie verdorbenes Obst zurückgegeben hatte, war Miss Watters da gewesen und hatte sie mit einem traurigen Lächeln in Empfang genommen. Es war
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