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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit
Autoren: B Akunin
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Sie nicht töten, und ich möchte auf keinen Fall Ihr Leben in Gefahr bringen.«
    »Ach ja?« fragte sie giftig. »Wozu dann dieses ganze Theater? Warum haben Sie drei gänzlich unschuldige Menschen ermordet? Worauf hoffen Sie?«
    Anwar Effendi (d’Hévrais kann vergessen werden) zog seine Uhr hervor.
    »Fünf nach sechs. Ich brauche ›dieses ganze Theater‹, um Zeit zu gewinnen. Übrigens, um den Fähnrich brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Da ich wußte, daß Sie ihn mögen, habe ich ihm nur den Oberschenkel durchlöchert, das ist nicht schlimm. Später kann er sich mit der Kriegsverwundung brüsten. Was die Gendarmen angeht, so ist das ihr Berufsrisiko.«
    »Zeit gewinnen? Wozu?« fragte Warja besorgt.
    »Schauen Sie, Mademoiselle Barbara, laut Plan wird in einer Stunde und fünfundzwanzig Minuten, also um halbacht, in San Stefano ein anatolisches Schützenregiment einrücken. Das ist eine der besten Truppen der türkischen Garde. Wir sind davon ausgegangen, daß die Abteilung Sobolew zu diesem Zeitpunkt schon den Stadtrand von Stambul erreicht hat, dort ins Feuer der englischen Flotte gerät und zurückweicht. Die türkischen Gardisten hätten dann den ungeordnet fliehenden Russen einen Schlag von hinten versetzt. Ein schöner Plan, und bis zum letzten Moment lief alles wie am Schnürchen.«
    »Und weiter?«
    »Für den Anfang sollten Sobolews Gedanken auf den verlockenden Personenzug gelenkt werden. Dabei haben Sie mir sehr geholfen, danke. ›Ein Buch aufschlagen, heißen Tee trinken‹ – das war großartig. Das weitere war einfach – der mächtige Ehrgeiz unseres unvergleichlichen Achilles, sein unstillbares Temperament und sein Glaube an seinen Stern hätten die Sache vollendet. Oh, Sobolew wäre nicht gefallen. Ich hätte es nicht zugelassen. Erstens kann ich ihn gut leiden, und zweitens hätte die Gefangennahme des großen Generals eine zweite Etappe des Balkankriegs einleiten können.« Anwar Pascha holte tief Luft. »Schade, daß es nicht geklappt hat. Ihr jugendlicher Greis Fandorin hat Beifall verdient. Wie die östlichen Weisen sagen, es war Karma.«
    »Was sagen sie?« fragte Warja verwundert.
    »Sehen Sie, Mademoiselle Barbara, Sie sind ein intelligentes, gebildetes Fräulein, aber Sie wissen elementare Dinge nicht«, sagte ihr sonderbarer Gesprächspartner vorwurfsvoll. »›Karma‹ ist einer der Grundbegriffe der indischen und der buddhistischen Philosophie. Etwas wie das Schicksal im Christentum, aber bedeutend interessanter. Das Elend des Westens besteht darin, daß er sich überheblich zur Weisheit des Ostens verhält. Dabei ist der Osten viel älter, einsichtsvollerund komplizierter. Meine Türkei liegt an der Kreuzung von West und Ost, und das Land könnte eine große Zukunft haben.«
    »Lassen Sie das Dozieren«, unterbrach ihn Warja. »Was werden Sie tun?«
    »Was ich tun werde?« fragte Anwar verwundert. »Natürlich warten, daß es halb acht wird. Der ursprüngliche Plan ist gescheitert, aber die anatolischen Schützen kommen auf jeden Fall. Der Kampf ist unausweichlich. Wenn unsere Gardisten gewinnen, und sie haben die zahlenmäßige Überlegenheit, die Ausbildung und das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, dann bin ich gerettet. Wenn jedoch Sobolews Leute standhalten … Lassen wir die Mutmaßungen. Übrigens«, er sah Warja ernst in die Augen, »ich kenne Ihre Entschlossenheit, aber kommen Sie nicht auf die Idee, Ihre Freunde vor dem Angriff zu warnen. Wenn Sie auch nur den Mund öffnen, um zu schreien, bin ich genötigt, Sie zu knebeln. Das werde ich tun, trotz der Achtung und Sympathie, die ich für Sie empfinde.«
    Er nahm den Schlips ab, machte ein festes Knäuel daraus und steckte es in die Tasche.
    »Eine Dame knebeln?« sagte Warja auflachend. »Als Franzose haben Sie mir besser gefallen.«
    »Ich versichere Sie, ein französischer Spion würde an meiner Stelle genauso gehandelt haben, wenn von seinen Entscheidungen so viel abhinge. Ich bin es gewohnt, das eigene Leben nicht zu schonen, und habe es viele Male im Interesse der Sache aufs Spiel gesetzt. Das gibt mir das Recht, auch das Leben anderer nicht zu schonen. Es ist ein Spiel von gleich zu gleich, Mademoiselle Barbara. Ein grausames Spiel, aber das Leben ist überhaupt ein grausames Ding. Meinen Sie, mir hätte es nicht leid getan um den tapferen Surow oder dengutmütigen MacLaughlin? Und wie, aber es gibt wichtigere Werte als die Gefühle.«
    »Was sollen das für Werte sein?« rief Warja. »Erklären Sie
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