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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit
Autoren: B Akunin
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Haben Sie die russische Literatur gelesen? Was, keine Zeit gehabt? Zweimal zwei ist immer vier und dreimal drei neun, ja? Zwei parallele Geraden schneiden sich niemals, wie? Bei Ihrem Euklid vielleicht nicht, aber bei unserm Lobatschewski schneiden sie sich!«
    »Ich verstehe Ihre Metapher nicht«, sagte Anwar achselzuckend. »Und die russische Literatur habe ich natürlich gelesen. Es ist eine gute Literatur, nicht schlechter als die englische oder französische. Aber Literatur ist ein Spielzeug und kann in einem normalen Land keine wichtige Bedeutung haben. Ich selbst bin ja auch eine Art Literat. Man soll sich einer Aufgabe widmen und nicht sentimentale Märchen schreiben. Die Schweiz zum Beispiel hat keine große Literatur, doch das Leben dort ist unvergleichlich würdiger als bei Ihnen in Rußland. Ich habe in der Schweiz meine ganze Kindheit und Jugend verbracht, und Sie können mir glauben …«
    Er sprach nicht zu Ende – aus der Ferne war das Knattern von Schüssen zu hören.
    »Es geht los! Vorzeitig!«
    Anwar legte das Ohr an die Tür, seine Augen glänzten fiebrig.
    »Verdammt! Und der Raum hat kein einziges Fenster!«
    Warja versuchte vergeblich, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Das Krachen der Schüsse kam näher. Sie hörte, wie Sobolew irgendwelche Befehle gab, konnte aber nichts verstehen. Jemand rief »Allah!«, dann dröhnte eine Salve.
    Anwar drehte die Trommel seines Revolvers und murmelte:»Ich könnte einen Ausfall machen, aber ich habe nur noch drei Patronen. Ich hasse Untätigkeit!«
    Er fuhr zusammen – Schüsse knallten schon im Gebäude.
    »Wenn Unsere siegen, schicke ich Sie nach Adrianopel«, sagte Anwar schnell. »Jetzt geht der Krieg wohl zu Ende. Eine zweite Etappe wird es nicht geben. Schade. Nicht alles kommt wie geplant. Vielleicht sehen wir beide uns wieder. Jetzt hassen Sie mich natürlich, aber wenn Zeit vergangen ist, werden Sie sehen, daß ich recht hatte.«
    »Ich hege keinen Haß gegen Sie«, sagte Warja. »Es macht mich nur traurig, daß ein so talentierter Mensch wie Sie sich mit solchem Schmutz beschäftigt. Ich erinnere mich, wie Misinow die Geschichte Ihres Lebens vorlas …«
    »Wirklich?« sagte Anwar zerstreut, er horchte auf den Schußwechsel.
    »Ja. So viele Intrigen, so viele Tote! Der Tscherkesse, der vor seiner Hinrichtung Arien sang, war doch Ihr Freund? Haben Sie den auch geopfert?«
    »Ich denke nicht gern an diese Geschichte«, sagte er ernst. »Wissen Sie, was ich bin? Ein Geburtshelfer, ich helfe einem Säugling ans Licht der Welt, und meine Hände sind bis zum Ellbogen voller Blut und Schleim.«
    Eine Salve krachte ganz in der Nähe.
    »Ich werde jetzt die Tür öffnen«, sagte Anwar und spannte den Hahn, »und meinen Leuten helfen. Sie bleiben hier und stecken um Gottes willen nicht den Kopf heraus. Es ist bald zu Ende.«
    Er griff nach dem Riegel und erstarrte plötzlich – in der Bank wurde nicht mehr geschossen. Es ertönten Stimmen, aber ob russische oder türkische war nicht auszumachen. Warja hielt den Atem an.
    »Ich dreh dir die Visage nach hinten! Hier im Winkel sichrumdrücken, du Arsch-Arsch-Arsch!« bellte ein Unteroffiziersbaß, und die heimatliche Stimme ließ Warja erbeben.
    Durchgehalten! Abgewehrt!
    Das Schießen entfernte sich immer weiter, und sie hörten deutlich ein langgedehntes »Hurraa!«.
    Anwar stand mit geschlossenen Augen da. Sein Gesicht war ruhig und traurig. Als die Schießerei ganz aufhörte, zog er den Riegel zurück und öffnete ein wenig die Tür.
    »Das war’s, Mademoiselle Barbara. Ihre Einkerkerung ist beendet. Gehen Sie.«
    »Und Sie?« flüsterte Warja.
    »Die Dame wird ohne besonderen Vorteil geopfert. Schade. Ansonsten bleibt alles in Kraft. Gehen Sie. Ich wünsche Ihnen Glück.«
    »Nein!« Sie wich seiner Hand aus. »Ich lasse Sie nicht hier. Ergeben Sie sich, ich werde vor Gericht zu Ihren Gunsten aussagen.«
    »Damit die mir die Kehle zunähen und mich dann doch hängen?« sagte Anwar auflachend. »Nein, besten Dank. Ich kann vor allem zwei Dinge auf der Welt nicht ertragen – Demütigung und Kapitulation. Leben Sie wohl, ich muß allein sein.«
    Er faßte Warja am Ärmel und schob sie mit einem sachten Stoß hinaus. Die Stahltür schloß sich gleich wieder.
     
    Warja sah vor sich den bleichen Fandorin. Neben dem zerschlagenen Fenster stand General Misinow und schnauzte die Gendarmen an, die die Glasscherben zusammenfegten. Draußen tagte es.
    »Wo ist Sobolew?« fragte Warja erschrocken.
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