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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit
Autoren: B Akunin
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studiert und Ihre Führer kennengelernt. Sie brauchen nur Sobolew zuzuhören, diesem Herzchen, der ein neuer Napoleon werden will! Die Mission des russischen Volkes sei die Einnahme von Zargrad und die Vereinigung aller Slawen. Wozu? Damit die Romanows Europa wieder ihren Willen diktieren? Eine Horrorvision! Sie hören das nicht gern, Mademoiselle Barbara, aber Rußland birgt in sich eine schreckliche Bedrohung für die Zivilisation. In Rußland brodeln wilde, zerstörerische Kräfte, die früher oder später nach außen drängen werden, und das wird der Welt nicht gut bekommen. Es ist ein instabiles, absurdes Land, das alles Schlechte vom Westen wie vom Osten in sich aufgesogenhat. Rußland muß in die Schranken gewiesen, muß gebändigt werden. Das ist zu seinem Nutzen und ermöglicht es Europa, sich weiterhin in der notwendigen Richtung zu entwickeln. Wissen Sie, Mademoiselle Barbara«, Anwars Stimme zitterte plötzlich, »ich liebe meine unglückliche Türkei sehr. Sie ist ein Land der versäumten großen Möglichkeiten. Aber ich bin mit vollem Bewußtsein bereit, den osmanischen Staat zu opfern, wenn ich damit die russische Bedrohung von der Menschheit abwenden kann. Da wir schon vom Schach sprechen, wissen Sie, was ein Gambit ist? Nein? Das italienische gambetto, dare il gambetto, bedeutet ›ein Bein stellen‹. Gambit, das ist ein Eröffnungsspiel, bei dem man dem Gegner eine Figur opfert, um strategische Überlegenheit zu gewinnen. Ich selbst habe Rußland ganz am Anfang dieser Schachpartie eine verlockende Figur angeboten – die fette, appetitliche, schwache Türkei. Das Osmanische Reich wird sterben, aber Zar Alexander wird das Spiel nicht gewinnen. Im übrigen hat sich der Krieg so günstig gestaltet, daß vielleicht auch für die Türkei noch nicht alles verloren ist. Sie behält ja Midhat Pascha. Das ist ein vorzüglicher Mann, Mademoiselle Barbara, ich habe ihn absichtlich eine Zeitlang aus dem Spiel genommen, doch jetzt muß ich ihn wieder hereinnehmen. Wenn ich die Möglichkeit habe. Midhat Pascha kehrt unbefleckt nach Stambul zurück und nimmt die Macht in seine Hände. Vielleicht rückt die Türkei dann aus der Dunkelheit ins Licht.«
    Vor der Tür die Stimme Misinows: »Herr Anwar, warum alles in die Länge ziehen? Das ist doch kleinmütig! Kommen Sie raus, ich verspreche Ihnen den Status des Kriegsgefangenen.«
    »Und den Galgen wegen Kasansaki und Surow?« flüsterte Anwar.
    Warja holte tief Luft, aber der Türke war auf der Hut – er holte den Knebel aus der Tasche und schüttelte ausdrucksvoll den Kopf.
    »Ich muß nachdenken, Monsieur General!« rief er. »Um halb acht werde ich Ihnen antworten!«
    Danach schwieg er lange. Er lief im Tresorraum auf und ab, sah mehrmals nach der Uhr.
    »Wenn ich nur raus könnte!« murmelte der seltsame Mann endlich und schlug mit der Faust auf das eiserne Regal. »Ohne mich verschlingt Abd ul Hamid den edlen Midhat!«
    Er blickte Warja mit seinen klaren hellblauen Augen schuldbewußt an und erklärte:
    »Verzeihen Sie, Mademoiselle Barbara, ich bin nervös. Mein Leben ist in dieser Partie nicht ganz ohne Bedeutung. Mein Leben ist auch eine Figur, aber ich schätze es höher als das Osmanische Reich. Sagen wir so: Das Reich ist ein Läufer, und ich bin die Dame. Doch um des Sieges willen kann man auch die Dame opfern. Jedenfalls habe ich die Partie nicht verloren, ein Remis ist mir sicher!« Er lachte aufgeregt. »Es ist mir gelungen, Ihre Armee bei Plewna bedeutend länger festzuhalten, als ich gehofft hatte. Sie haben Kraft und Zeit verschwendet. England hat sich auf die Konfrontation vorbereitet, Österreich die Feigheit abgeworfen. Selbst wenn es keine zweite Etappe des Krieges gibt, hat Rußland das Nachsehen. Zwanzig Jahre hat es gebraucht, sich vom Krimkrieg zu erholen, und zwanzig Jahre lang wird es seine Wunden aus dem gegenwärtigen Krieg lecken. Und das jetzt, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, wo jedes Jahr so viel bedeutet. In zwanzig Jahren wird Europa gewaltig vorankommen. Rußland ist künftig die Rolle einer zweitrangigen Macht zugewiesen. Es wird zerfressen vom Geschwür der Korruption und des Nihilismus und wird den Fortschritt nicht mehr bedrohen.«
    Da riß Warja die Geduld.
    »Wer sind Sie denn, daß Sie sich ein Urteil anmaßen, wer der Zivilisation das Heil bringt und wer den Untergang? Den Staatsmechanismus hat er studiert, unsere Führer kennengelernt! Und den Grafen Tolstoi, Fjodor Dostojewski haben Sie nicht kennengelernt?
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