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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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ich nie werden wollen. Brillen verkaufen, den Leuten Kontaktlinsen auf die Augen drücken ... Ein ganzes Leben lang? Das kann es nicht sein. Für mich jedenfalls nicht.
    «Was soll bloß aus dir werden, Zeno? In der heutigen Zeit ist Leistung das, was zählt. Und die bringst du einfach nicht.»
    Seine Lieblingssätze.
    Ja, und dann legt er die Stirn in Falten, seufzt abgrundtief, als stünde der Weltuntergang kurz bevor.
    Insgeheim hofft er immer noch, dass irgendein Wunder passiert, ich plötzlich eine Klasse überspringe und später bei ihm einsteige und seinen Laden übernehme...
    Aber ich will nicht.
    «Ich will Schneider werden oder Koch. Aber am liebsten Schneider. Das weißt du doch!»
    «Lächerlich, Zeno, wirklich!», sagt er nur, guckt ziemlich genervt und schüttet sich ein Glas Rotwein ein. «Das sind Berufe ohne Zukunft!»
     
    Laura? Ja!
    Die macht nächstes Jahr Abitur. Und ihr Durchschnitt wird so gut werden, dass sie ganz problemlos Medizin studieren kann. Die Bilderbuchtochter. In allen Lebensbereichen. Seit zehn Jahren spielt sie Violine, übt jeden Tag ein bis zwei Stun den. Seit vier Jahren ist sie Mitglied im Jugendsinfonie orchester. Jedes Jahr gewinnt sie einen Preis. Ja, ihr stehen alle Türen offen. Chefärztin oder Solistin. Für Laura ist alles möglich. Auch Lehrerin, Journalistin oder Psychologin. Laura kann zuhören, sie hat eine klare Meinung, sie ist zuverlässig, selbstbewusst, ausgeglichen, beliebt ... Und wäre sie nicht, gäbe es mich wahrscheinlich schon lange nicht mehr. Das ist mir klar. In drei Wochen geht sie für ein Jahr nach Amerika, und ich hab keine Ahnung, was dann mit mir kleinem Bruder passiert...
    «Lass dich nicht so hängen, Zeno! Reiß dich zusammen! - Noch ist alles möglich! Du musst es nur wollen!» Laura streicht mir über den Kopf. «Iss den Teller leer! Du musst los!» Sie schiebt mir zwei Äpfel rüber. «Reicht das?» Heute brauch ich kein Schulbrot. Die geben uns den Stundenplan, verteilen die Bücher, und dann lassen sie uns gehen. Hoffe ich.
     
    Ich muss die U-Bahn nehmen. Irgendein Idiot fand mein Fahrrad unwiderstehlich und musste es mitnehmen. Das drit te in diesem Jahr.
    «Ich kauf dir keins mehr, Zeno!», hat er gesagt.
    Also nehm ich die U-Bahn.
    Meine alte Schule war nur zwei Straßen weiter. Aber ich musste mir ja unbedingt drei Fünfen leisten. Englisch, Mathe und Chemie. Trotz Nachhilfe. Ich bin eben blöd, zu blöd für die Schule. Untauglich fürs Leben.
    «Was soll bloß aus dir werden?»
    Ja, er macht sich wirklich Gedanken ... Gedanken um meine Zukunft, die er nicht sehen kann.
    Trotz seiner hunderttausend Brillen nicht.
    Auch meine Gespenster werden von Jahr zu Jahr mehr. Wenn ich nicht aufpasse, dann packen sie mich. Und von mir bleibt nichts.
    Ich hasse diese Schule. Das weiß ich schon in der U-Bahn. Das weiß ich schon beim Anblick der hektischen Massen, die alle dieses eine Ziel haben: die Geschwister-Scholl-Gesamt schule. Die alte Angst schleicht sich an ...
    Aber ich kann nicht umkehren. Ich muss durch dieses graue Labyrinth. Meine Klasse finden. Dieses Jahr muss ich es schaffen. Sonst hab ich nicht mal den Hauptschulab schluss. Und den brauche ich, sonst finde ich nie eine Lehrstelle.
    «Du weißt, Zeno, wenn es nicht geht, gibt es nur eine Lösung! Drei Monate geb ich dir noch!»
    Ja, ich weiß. Dann kommt das Internat.
    Ein zweites Mal halte ich das nicht durch.
    Das erste Mal hat es mich fast umgebracht.
    Aber jetzt ich hab vorgesorgt. Die todsichere Rettung. Für den Ernstfall. Für den Fall, dass es nicht mehr geht. Nicht mehr weitergeht. Mir nichts mehr einfällt, ich die Sonne nicht mehr sehen kann, den Mond, die Sterne. Für den Tag, wenn der Himmel sich endgültig verfinstert.
    Noch ist die Packung verschlossen. Wenn es so weit ist, misch ich sie mir unter meinen Lieblingsjoghurt. Blaubeeren. Dazu zwei Esslöffel Zucker, damit ich im letzten Moment nicht aufgebe, weil ich den bitteren Geschmack nicht ertrage.
    Dieser Gedanke tröstet mich. Die endgültige Lösung, wenn es keine Lösung mehr gibt. Einschlafen, einfach einschlafen und nie wieder wach werden. Nein, ein Aufwachen an den neuesten computergesteuerten Maschinen im weißen Kran ken hausbett einer Intensivstation ist bei meiner Mischung nicht drin. Dies ist ein todsicheres Rezept.
    Ich weiß auch schon, wo. Mein alter Lieblingsplatz im Wald. Noch hat niemand ihn entdeckt. Alle vier Wochen schau ich nach. Jedes Mal denke ich, jetzt ist es passiert. Jedes Mal
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