Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
Vom Netzwerk:
jung. Dazwischen ein Kind, das gerade laufen kann. Nett sehen die aus, die vier. Lebendig und zufrieden. Bis ins Dachgeschoss hör ich ihr Lachen. Vielleicht werden sie ein wenig Leben in diesen Kasten bringen.
    In der ersten Etage wohnt ein älteres Ehepaar, das die meiste Zeit des Jahres auf einer Insel lebt. In der zweiten Etage ein Maler, der sich vor allem in seinem Atelier am Stadt rand aufhält, in der dritten Etage eine Ärztin, die entweder in ihrer Praxis schläft oder sonst wo, und unter uns zwei Frauen. Mitte vierzig. Die gehen morgens um acht aus dem Haus und kommen um fünf zurück. Alles wenig aufregend. Und kein einziges Kind! Die Leute da unten seh ich vielleicht häufiger. Wenn sie im Garten Kaffee trinken oder auf der Wiese Federball spielen. Wenn das Kind auf der Schaukel sitzt oder im Sandkasten Kuchen backt... Aber wer von denen da unten zieht ein? Alle vier?

 

     
     

     
    Ich falle. Tiefer, immer tiefer falle ich, und es gibt keinen Halt. Nirgendwo einen Halt bei diesem Sturz in die Tiefe.
    Ich will die Augen aufreißen, weit, noch weiter. Doch mich umgibt nichts als schwarze Dunkelheit.
    Ich will rufen, schreien, aber aus meinem Mund kein Laut.
    Ich will zurück. Aber es gibt kein Zurück. Ich will mich festhalten, aber es geht nicht. Weit und breit nichts, woran ich mich festhalten könnte.
    Ich höre Stimmen, laute Stimmen. Stimmen, die immer lau ter werden, die mir etwas zurufen. Ja, sie meinen mich, ich höre meinen Namen: Zeno, immer wieder Zeno. Jetzt lachen sie. Und auch das Lachen wird lauter, immer lauter. Kommt näher, immer näher, aber ich kann sie nicht sehen, die, die da rufen. Ich muss mir die Ohren zuhalten. Aber auch das geht nicht. Ich kann meine Hände nicht bewegen. Da sehe ich, dass ich nackt bin. Nackt und ungeschützt. Und ich kann nichts tun. Gar nichts. Ich weine, lautlos, ohne Tränen. Für einen Moment wird es hell, taghell. Tief unten irgendwo. Dann schluckt die Dunkelheit das Licht. Als w ä r nichts gewesen. Sie hat mir zugelächelt.
    «Guten Morgen!», kräht der Hahn und schreckt mich hoch. Noch einmal «Guten Morgen!». Und immer wieder «Guten Morgen! Guten Morgen!». Ich suche verzweifelt den Knopf, mit dem ich ihm die Gurgel abdrehen kann.
    Endlich!
    Der Weckhahn war Lauras Abschiedsgeschenk an mich. Damit der kleine Zeno bloß zur rechten Zeit wach wird, dem lieben Papi den Kaffee aufsetzt, ihm die Zeitung ans Bett bringt, brav sein Müsli isst und j eden Morgen pünktlich in die Schule kommt. Scheiße! Am liebsten würde ich dieses verdammte, saublöde, schwachsinnige Geflügel mit seinem roten Schnabel durchs Fenster schmeißen. Ich bin doch nicht mehr drei! Diesen Scheißwecker hätte sie sich sparen kön nen, wenn sie geblieben wäre. Warum musste sie unbedingt nach Amerika? In das Land, das keine Kochbücher kennt, weil kein Mensch weiß, wozu man die braucht. Tiefkühlkost und Mikrowelle, Big Macs und Hot Dogs, das ist Amerika. Schwarze und Weiße, Arme und Reiche, Slums, die zum Him mel stinken und U-Bahnen, die man besser nicht benut zen sollte. Ein kaputtes Land, dieses wunderbare Amerika, wenn man genauer hinsieht. Mich sieht dieses Land nie!
    Aber meine Schwester muss ja unbedingt perfekt Englisch können.
    «Warum bloß, sag mir das?»
    «Weil dir mit Englisch die ganze Welt offen steht!»
    So viel Welt brauch ich nicht. Mir ist sie so manchmal schon zu groß. Beängstigend groß.
    Ein Jahr ohne Laura!
    «Bitte, geh nicht!»
    «Ich muss gehen!»
    «Ich schaff das nicht allein!»
    «Du bist sechzehn, Zeno, und nicht mehr zehn!»
    «Allein mit ihm – das halt ich nicht aus!»
    « Du weißt doch, zu wem du gehen kannst, jederzeit! Daran solltest du endlich mal denken! Sie wartet auf dich!»
    Verdammte Scheiße!
    Ich bin nass geschwitzt. Und froh, dass die Nacht vorbei ist. Dass die Gespenster sich für heute verzogen haben.
    Meine Gespenster lieben die Nacht.
    Das wird ein wunderbarer Tag heute!
    Was kann mir nach diesem Traum noch passieren?
    Nichts. Wirklich nichts. Schlimmer kann es nicht werden.
    Wer so einen Traum aushalten kann, der hält auch den kommenden Tag aus.
    In der ersten Stunde zum Beispiel: das Ergebnis der Mathearbeit. Mal wieder ein Beweis, dass ich für diese Welt zu blöd bin. Ich hab die verdammten Gleichungen immer noch nicht kapiert. In der zweiten Stunde Englisch. Die Grammatikarbeit. Auch da hab ich wenig Hoffnung auf eine Vier. In der fünften Stunde dann Sozialkunde bei unserem Referendar. Mit meinem Soloauftritt.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher