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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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der Kasten voll. Drucksachen, Rechnungen, Zeitschriften für meinen Vater. Und ein Brief für Zeno Zimmermann.
    Mit dieser Schrift. Gerade und klar. In schwarzer Tinte ...
    Mir klopft das Herz. Immer noch. Jedes Mal. Seit sechs Jahren. Bei jedem Brief, den ich dann doch zurückschicke. Und mir wird schwindelig. Immer wieder. Mich retten dann nur die 163 Stufen. Die laufe ich hoch, atemlos und gehetzt, als klebten die Verfolger dicht an meinen Fersen ...
    Sobald ich oben bin, streiche ich meine Adresse durch, schreibe mit dickem Filzstift «An Absender zurück», laufe wieder atemlos und gehetzt die Stufen zurück, aus dem Haus hinaus, bis zur nächsten Straßenecke. Da hängt der gelbe Kasten. Klappe auf. Brief rein, bevor ich schwach werde, ihn aufreiße und endlich einmal lese.
    Heute atme ich tief. Heute steige ich langsam, fast im Zeitlupentempo die 163 Stufen nach oben bis in unser Dachge schoss. Ich hole mir einen Blaubeerjoghurt aus dem Kühlschrank und setze mich an den Küchentisch.
    Vor mir liegt der Brief. Ein türkisfarbener Umschlag. Seit sechs Jahren immer wieder dieses Türkisblau. Ihre Lieblingsfarbe. Das Meer! Das Meer vor Gomera. Unser letzter gemeinsamer Urlaub. Keine Ahnung, ob sie damals diesen Jan schon gekannt hat. Jedenfalls haben sie sich schon in Gomera nicht mehr verstanden. Nur noch gestritten.
    «Du bist mit deinem Laden verheiratet!»
    «Aber du profitierst doch davon. Ich verdiene schließlich eine Menge Geld!»
    «Geld macht mich nicht glücklich! Ich will leben. Mit jemandem den Alltag teilen. Und wenn ich arbeite, dann will ich arbeiten, weil es meine Arbeit ist. Ich möchte zurück in meinen Beruf.»
    «Und wer soll dann die Buchhaltung für meinen Laden machen?»
    «Bürokräfte findest du überall!»
    Das hat ihm nicht gepasst. Alles sollte so bleiben wie bisher.
    «Und wer kümmert sich um die Kinder, wenn du arbeitest?»
    «Es sind doch genau so gut deine Kinder. Du könntest dir endlich mal mehr Zeit für sie nehmen!»
    « Und der Laden ?»
    « Du hast doch genug Angestellte!»
    Aber da waren noch der Gewerbeverein und sein Tennisclub. Und seinen Laden wollte er einfach keine Minute aus dem Auge lassen.
    Meine Mutter war nicht mehr glücklich mit meinem Vater. Als sie sich in diesen Jan verliebte, hat sie ihr altes Lachen und die strahlenden Augen wiedergefunden.
    Ich weiß nicht, was mit mir los ist.
    Ich weiß nur, dass ich heute den Brief nicht zurückschicken kann. Der Zeitpunkt ist verpasst.
    Aber – öffnen und lesen?
    Oder zerreißen und wegwerfen?
    Das Telefon nimmt mir fürs Erste die Entscheidung ab.
    Mein Vater!
    Ja, es kann so bleiben wie bisher. Frau Minnerup, seine Kontaktlinsenberaterin, wird Lauras Küchendienst überneh men. Bis heute Abend dann um sieben. Ach so, ja, da bin ich dran. Vielleicht gehen wir doch besser zum Italiener. Ich weiß nicht, ob Beate Geschmack an meinen Kochkünsten finden kann. Er kichert blöd. Mach deine Hausaufgaben, Zeno!
    Beate! Beate Minnerup!
    Ich nehm das Küchenmesser, Marke Herkules, und schlitze den Brief auf.
    Ein Foto fällt heraus. Ein kleiner Junge, blaue Augen, blon de Locken, lacht mich an. Ich muss die Augen schließen. Mein Bruder! Ich kann ihn nicht zerreißen.
    Fünf tiefe Atemzüge. Der Wasserhahn. Das kalte Wasser in meinem Gesicht lässt alle Tränen erfrieren.
    Ich hole den Brief aus dem Umschlag.
     
    Mein lieber Zeno,
     
    ich weiß nicht, ob du auch diesen Brief wieder zurückschickst, aber ich werde nicht aufgeben. Solange ich lebe, werde ich dir Brie fe schicken, auch wenn du sie nicht lesen wirst. Ich werde dir im mer wieder die gleichen Sätze schreiben. Gib mir eine Chance. Gib uns eine Chance. Und verzeih mir! Ich musste damals weggehen. Vielleicht kannst du das eines Tages verstehen. Ich hätte dich gerne mitgenommen. Das weißt du doch auch. Und ich hin immer noch da.
     
    In Liebe, deine Mama!
     
    Ich flüchte unter die Dusche. Kaltes Wasser prasselt auf meine Haut. Die Techno-Bässe dröhnen in meinen Ohren. Eiskalte Folter. Aber ich beiße die Zähne zusammen. Erst kurz vor dem Erfrieren verlasse ich die Dusche.
    Teelichter, ein Feuerzeug. Dann hol ich mir Lauras Rad aus dem Keller, pack den Schlafsack auf den Gepäckträger und fahr los.
    Sommerhitze, immer noch, 30 Grad, wie seit Wochen schon. Mir aber ist kalt. Innen und außen. Auch 40 Minuten später noch, als ich endlich da bin.
    Ein wirklich geheimer Platz. Wir hatten das damals gehofft, aber dass er so geheim ist, dass es ihn immer noch
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