Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
PROLOG
    Und plötzlich fragte die Fremde: »Kennt ihr die Geschichte von König Herodes und den Kindern Bethlehems?«
    Ihre Stimme klang warm wie die Flammen der heimischen Feuer, süß wie das Backwerk der Händler aus dem Süden, und die Kinder Hamelns rückten in der Dunkelheit näher an die Frau heran, betörend und schön wie sie dastand, den weiten Mantel zurückgeworfen, den Wanderstecken griffbereit zu ihren Füßen, wie ein Zauberstab, dessen sie in diesem Augenblick nicht bedurfte. Denn die Magie, die sie wirkte, war anderer Natur; ihre Worte woben ein Netz aus Geschichten, ein machtvolles Gespinst, unsichtbar und doch stärker als das Tuch der Weberinnen im Genitium am Fluß.
    Einige der Kinder, die sich zu später Stunde am Fuß des östlichen Stadttors eingefunden hatten, murmelten Worte der Zustimmung, andere murrten gar: Sie waren nicht gekommen, um dieselben Geschichten zu hören, die der Priester allwöchentlich von der Kanzel predigte.
    Ein kleiner Junge hob die Hand. »Die Weisen aus dem Morgenland kamen zum Hof des Königs Herodes und fragten: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Herodes erschrak und befragte seine Schriftgelehrten. ›Zu Bethlehem‹, sprachen diese. Der König fürchtete um sein Reich und sandte Krieger in die Stadt und ihre Umgebung, die alle Kinder hinschlachteten, die jünger waren als zwei Lenze. Nur Jesus entging diesem Schicksal, denn Gott war seinen Eltern im Traum erschienen und hatte sie nach Ägypten befohlen.«
    Die Frau lächelte und fragte: »Ist es das, was euch der Pfaffe lehrt?«
    Die Kinder murmelten, nickten. Vom wilden Hügelland im Osten wehte ein kühler Nachtwind heran, flüsternd, klagend, säuselnd in den Scharten der Stadtmauer. Sie hatten kein Feuer entzündet, als sie sich hier versammelten, und so herrschte tiefe Dunkelheit; die große Frau war kaum mehr als ein schwarzer Umriß vor den Sternen.
    Wie aber konnten sie da heimlich ihre Schönheit preisen, wo doch niemand sie sah? Wie sich ihrer Warmherzigkeit erfreuen, wenn keiner sie kannte?
    Die Fremde schien zu spüren, daß ihr Bann an Wirkung verlor. Mit einem gütigen Seufzen hob sie den Stab aus dem Gras, wandte seine knorpelige Spitze gen Süden und sagte: »Ich will euch berichten, was wirklich geschah, damals, im fernen Judenland, doch es ist keine schöne Geschichte.«
    Niemand hatte Einwände. Die Kinder – es mochten mehrere Dutzend sein, die sich im Dunkeln aus den Häusern ihrer Familien gestohlen und durch schlammige Gassen herbeigeschlichen waren – gaben sich mit jedem Garn zufrieden, so es nur neu und voller Wunder war. Ihre Augen erglühten, ihre kleinen Hände zogen die Säume von Decken und Überwürfe enger, und sogleich herrschte atemlose Stille.
    »Tatsächlich begab es sich«, sprach die Frau, »daß König Herodes, Herrscher über das Land der Juden, von der Geburt eines Kindes erfuhr, auf daß ihm angst und bange wurde. Ob es in der Tat die drei Weisen des Matthäus waren, die ihm die Kunde brachten, oder aber Späher, welche die Gerüchte und Legenden des einfachen Volkes auskundschafteten, das weiß ich nicht.«
    »Wie kannst du eine Geschichte erzählen, und doch nicht alles über sie wissen?« fragte einer der älteren Jungen.
    »Dies ist keine erfundene Geschichte«, wies ihn die Frau zurecht, und obgleich er ihre Antwort nicht verstand, fuhr sie fort:
    »Herodes fühlte sich in seiner Macht bedroht, denn einen zweiten König, gleich ob neugeboren oder nicht, wollte er keinesfalls dulden. Nach Beratungen mit seinen Priestern und Hofgelehrten traf er jene Entscheidung, von der auch das Evangelium berichtet: Das Kind, welches vom Volk als neuer König verehrt wurde, mußte sterben.«
    »Du erzählst uns nichts Neues«, beschwerte sich ein Mädchen, doch sogleich brachten andere es mit Gesten und Knuffen zum Schweigen; sie ahnten sehr wohl, daß der eigentliche Kern der Geschichte noch folgen würde. Sie spürten seinen Atem, das Echo seiner Schritte, fühlten ihn nahen wie ein Unwetter am Horizont.
    Die schwarze Frau rammte die Spitze ihres Wanderstabes in den Boden, als wollte sie damit die Welt in zwei Hälften spalten. Doch falls dies ein Zeichen ihres Zorns über die neuerliche Unterbrechung war, so vermochte man ihrer Stimme dergleichen nicht anzuhören. Sanft klangen ihre Worte, als sie weitersprach, weich und voller Wehmut.
    »Die Kinder Bethlehems ahnten nicht, wie ihnen geschah, als eines Tages ein Fremder ihre Stadt betrat. Und doch sollte sich durch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher