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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Frau hat ihn auch «Osiris» genannt und jemand anders «Großer Geist».
    Der Karton meiner Mutter hieß «Karl-Heinz», und da ist dann der Therapeut zu ihr gekommen und hat sie gelöchert. Zuerst wollte er wissen, ob das ihr Vater war. «Wer?», hat meine Mutter gefragt, und der Therapeut hat auf den Karton gezeigt. Meine Mutter hat den Kopf geschüttelt. Und da hat der Therapeut gefragt, wer das dann sein soll, dieser Karl-Heinz, und meine Mutter hat gesagt: «Die Pappschachtel da.» Und dann wollte der Therapeut wissen, wie denn der Vater von meiner Mutter geheißen hätte. «Gottlieb», hat meine Mutter da geantwortet, und der Therapeut hat «Aha!», gesagt, und dieses «Aha» soll so geklungen haben, als hätte der Therapeut jetzt wahnsinnig Bescheid gewusst. Gottlieb – aha! Meine Mutter wusste aber nicht, worüber der Therapeut Bescheid gewusst hat, und er hat es ihr auch nicht gesagt. Und so soll das immer gewesen sein. Alle haben immer wahnsinnig so ausgesehen, als ob sie Bescheid wüssten, sie hätten’s einem aber nie verraten. Als mein Vater das gehört hat, das mit dem Karton, ist er fast vom Stuhl gefallen vor Lachen. Er hat immer gesagt: «Mein Gott, ist das traurig», und dann hat er doch gelacht, und ich musste auch die ganze Zeit lachen, und meine Mutter fand’s ja sowieso komisch, jedenfalls im Nachhinein.
    Und das alles hab ich in meinen Aufsatz reingeschrieben. Um das Wort «Rettung» unterzubringen, hab ich noch die Episode mit dem Küchenmesser dazugenommen, und weil ich gerade so in Fahrt war, auch noch, wie sie morgens die Treppe runtergekommen ist und mich mit meinem Vater verwechselt hat. Das war der längste Aufsatz, den ich je geschrieben hatte, mindestens acht Seiten lang, und ich hätte wahrscheinlich auch noch Teil zwei und Teil drei und Teil vier schreiben können, wenn ich gewollt hätte, aber wie sich dann rausstellte, war Teil eins völlig ausreichend.
    Die Klasse ist beim Vorlesen durchgedreht vor Begeisterung. Schürmann hat um Ruhe gebeten und gesagt: «Also schön. Na schön. Wie lang ist das denn noch? Ach, so lang noch? Das reicht erst mal, würde ich sagen.» Da brauchte ich den Rest gar nicht mehr zu lesen. In der Pause hat Schürmann mich dabehalten, um das Heft allein anzugucken, und ich hab wahnsinnig stolz neben ihm gestanden, weil das so ein toller Erfolg gewesen war und weil Schürmann den Aufsatz jetzt sogar noch persönlich zu Ende lesen wollte. Maik Klingenberg, der Schriftsteller. Und dann hat Schürmann das Heft zugeklappt und mich angesehen und den Kopf geschüttelt, und ich hab gedacht, das ist ein anerkennendes Kopfschütteln, so unter dem Motto: Wie kann ein Sechstklässler nur so endgeile Aufsätze schreiben? Aber dann hat er gesagt: «Was grinst du denn so blöd? Findest du das auch noch lustig?» Und da wurde mir langsam klar, dass das ein so toller Erfolg auch wieder nicht war. Jedenfalls nicht bei Schürmann.
    Er ist vom Pult aufgestanden und zum Fenster gegangen und hat auf den Pausenhof rausgesehen. «Maik», hat er gesagt, und dann hat er sich wieder zu mir umgedreht. «Das ist deine Mutter . Hast du da mal drüber nachgedacht?»
    Offensichtlich hatte ich einen riesigen Fehler gemacht. Ich wusste zwar nicht, welchen. Aber es war Schürmann einfach anzusehen, dass ich mit dieser Geschichte einen absolut riesigen Fehler begangen hatte. Und dass er das für den peinlichsten Aufsatz der Weltgeschichte hielt, war auch irgendwie klar. Nur warum das so war, das wusste ich nicht, das hat er mir nicht verraten, und ich weiß es, ehrlich gesagt, bis heute nicht. Er hat nur immer wiederholt, dass es meine Mutter wäre, und ich hab gesagt, das wäre mir klar, dass meine Mutter meine Mutter wäre, und dann wurde er plötzlich laut und hat gesagt, dieser Aufsatz wäre das Widerwärtigste und Ekelerregendste und Schamloseste, was ihm in fünfzehn Jahren Schuldienst untergekommen sei und so weiter, und ich soll sofort diese zehn Seiten rausreißen aus meinem Heft. Ich war völlig am Boden zerstört und hab natürlich gleich nach meinem Heft gegriffen wie der letzte Trottel, um die Seiten rauszureißen, aber Schürmann hat meine Hand festgehalten und geschrien: «Du sollst es nicht wirklich rausreißen. Kapierst du denn gar nichts? Du sollst nachdenken . Denk nach!» Ich dachte eine Minute nach, und, ehrlich gesagt, ich kapierte es nicht. Ich hab es bis heute nicht kapiert. Ich meine, ich hatte ja nichts erfunden oder so.

7
    Und danach hieß ich eben Psycho.
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