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Drachentau

Drachentau

Titel: Drachentau
Autoren: Paula Roose
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Jakob
    Jakob schaute in den Sonnenuntergang, der tausend anderen Sonnenuntergängen glich, und doch würde er ihn nie wieder so sehen wie heute. Er stand von seiner alten Holzbank auf und ging mit unruhigem Schritt auf und ab. Der Finsterwald streckte sich bereits mit seinen langen Schatten nach ihm aus und Rosa war noch immer nicht zu Hause. Er schaute den Mittelweg hinunter, der an dieser Stelle eher einem zu breit geratenen Trampelpfad glich, in der Hoffnung, sie jeden Augenblick zu sehen. Nichts regte sich. Seufzend setzte sich der wortkarge, alte Bär wieder hin. Mit seinen einhundertfünfzig Jahren war er im besten Bärenalter. Nicht wenige wurden dreihundert Jahre alt. Er war hochgewachsen, größer als die Bären in heutiger Zeit, hatte glänzendes, schwarzes Fell und sein wettergegerbtes, menschenähnliches Gesicht verriet, dass er gerne draußen war. Seine Vorderpfoten hatten Finger und glichen einer Hand. Sein Gang war aufrecht auf zwei Beinen und nach Bärenart behäbig, auch seine schwarze Nase war ganz und gar Bär. Um seine Hüfte trug er einen groben Ledergürtel, in dem er stets Werkzeug bei sich trug. Ein Messer, eine kleine Säge und einen Schraubenschlüssel hatte er in jedem Fall dabei.
    Jakob schaute zum Finsterwald hinüber. Dicht an dicht standen die Bäume und die spärlichen Zwischenräume tauchten rasch in ein undurchdringliches Schwarz, gespickt mit Farn und Dornengestrüpp. Eine dunkle Mauer mit wenigen Poren zum Atmen. Der Wald trug seinen Namen zurecht. Wer bei Verstand war und sein Leben liebte, der tat gut daran, sich von diesem Wald fernzuhalten. Hob man den Blick über die Bäume hinaus, sah man ein kleines bizarres Gebirge, das mit trügerischer Schönheit von der untergehenden Sonne in ein leuchtendes Rot getaucht wurde. Trügerisch, weil der einsame Berg eines der schrecklichsten Ungeheuer beherbergte, das man sich vorstellen konnte: Tumaros, den Drachen. Er war der Grund, dass der Wald so finster war. In seiner Nähe hielten sich allerlei Unholde auf. Dunkle Wesen, die sich lieber von hinten anschlichen, als von vorne einen Kampf zu wagen. Jakob störte sich nicht daran. Vielmehr genoss er es, dass sie ungebetene Gäste, unnötige Gespräche und neugierige Blicke fernhielten.
    Aber nicht alle Wesen im Finsterwald waren schlecht. Eschagunde, königliche Waldfee und Herrin des Waldes, hielt Tumaros stand und war seine ärgste Feindin.
    Jakobs Hütte war die letzte am Mittelweg und lag schon ein gutes Stück außerhalb. Bis zur nächsten Hütte im Dorf musste man einen Kilometer weit laufen. Zur rechten Hand war der Mittelweg von Brombeerbüschen gesäumt, deren weißes Blütenmeer, untermalt vom eifrigen Summen der Bienen, eine reiche Ernte versprach. Kurz bevor der Mittelweg im Wald verschwand, ging er beherzt auseinander, wie ein kleiner Wendehammer. Hier konnte man noch einmal tief Luft holen, denn im Wald, so glaubten alle, war die Luft dicker. Überhaupt gingen die Bären nur hinein um Holz, und vielleicht ein paar Pilze zu holen. Zwischen dem Waldrand und Jakobs Hütte war ein breiter Wiesenstreifen, und wenn man diesen linker Hand hinunterlief, kam man an den Mühlenbach. Dort hatten die Bären einst eine Mühle betrieben, die dem Dorf Wohlstand brachte. Tumaros hatte sie bei seinem letzten Angriff vor fünfzig Jahren zerstört, das Dorf gebrandschatzt, alle Reichtümer gestohlen und viele Bären getötet. Aus dem reichen Mühlendorf wurde an diesem Tag das kleine Mühlenau. Es gab keine Familie im Dorf, die nicht um einen geliebten Bären trauerte. Die meisten Überlebenden verließen es. Etwa einhundert Bären blieben zurück und bauten es wieder auf. Jakobs Tochter Lena, seit dem Angriff von Albträumen geplagt, und ihr Mann Boris waren vor zehn Jahren gegangen. Seitdem lebte Jakob mit Rosa allein. Es war ihm nicht leicht gefallen, zuzustimmen, dass sie blieb, wusste er doch wie kein anderer von der Gefahr des Drachens. Aber Rosa hatte darum gekämpft. Sie liebte ihren Großvater und das Dorf. Schließlich willigten ihre Eltern und Jakob ein.
    Jakob schaute besorgt zum immer dunkler werdenden Wald, als sein Blick festgehalten wurde. Zwischen zwei Randbäumen bemerkte er ein Flimmern, wie man es kennt, wenn sich die Luft über dem Boden stark erhitzt.
    Er beugte sich vor. »Das ist doch ... ja wenn das nicht ... natürlich ... eine Waldfee ist! Eschagunde!«
    Das Flimmern wurde dichter. Es zeichneten sich Konturen ab. Der zierliche Körper einer Frau, mit grünem,
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