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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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immer die Sonne. Ich schaue mir den roten Staub auf fünf Paar weißen Tennisschuhen an, ich sehe die Unterwäsche unter den knappen Tennisröcken, und ich sammle die Kronkorken ein, die von oben runterfallen und in die man mit Kugelschreiber reinmalen kann. Ich darf fünf Eis essen am Tag und zehn Cola trinken und alles beim Wirt anschreiben lassen. Und dann sagt Frau Weber oben: «Nächste Woche wieder um sieben, Frau Klingenberg?»
    Und meine Mutter: «Sicher.»
    Und Frau Weber: «Da bring ich dann diesmal die Bälle.»
    Und meine Mutter: «Sicher.»
    Und so weiter und so weiter. Immer genau das gleiche Gespräch. Wobei der Witz war, dass Frau Weber nie Bälle mitbrachte, da war sie zu geizig für.
    Ab und zu gab es aber auch eine andere Unterhaltung. Die ging so:
    «Nächste Woche wieder Samstag, Frau Klingenberg?»
    «Kann ich nicht, da fahr ich weg.»
    «Aber hat Ihr Mann nicht Medenspiele?»
    «Ja, er fährt ja auch nicht weg. Ich fahr weg.»
    «Ach, wo fahren Sie denn hin?»
    «Auf die Beautyfarm.»
    Und dann kam immer, immer, immer von irgendwem am Tisch, der das noch nicht kannte, die wahnsinnig geistreiche Bemerkung: «Das haben Sie doch gar nicht nötig, Frau Klingenberg!»
    Und meine Mutter hat ihren Brandy Alexander runtergekippt und gesagt: «War ein Witz, Herr Schuback. Ist ’ne Entzugsklinik.»
    Dann sind wir Hand in Hand vom Tennisplatz nach Hause, weil meine Mutter nicht mehr Auto fahren konnte. Ich hab ihre schwere Sporttasche getragen, und sie hat zu mir gesagt: «Du kannst nicht viel von deiner Mutter lernen. Aber das kannst du von deiner Mutter lernen. Erstens, man kann über alles reden. Und zweitens, was die Leute denken, ist scheißegal.» Das hat mir sofort eingeleuchtet. Über alles reden. Und scheiß auf die Leute.
    Zweifel sind mir erst später gekommen. Keine Zweifel am Prinzip. Aber Zweifel, ob es meiner Mutter wirklich so scheißegal war.
    Jedenfalls – diese Beautyfarm. Wie genau das da ablief, weiß ich nicht. Weil ich meine Mutter nie besuchen durfte, das wollte sie nicht. Aber wenn sie von da zurückkam, hat sie immer verrückte Sachen erzählt. Die Therapie bestand offenbar hauptsächlich aus keinem Alkohol und reden. Und Wasser treten. Manchmal auch turnen. Aber turnen konnten nicht mehr viele. Meistens haben sie nur geredet und dabei ein Wollknäuel im Kreis rumgeworfen. Weil, immer nur wer das Wollknäuel hatte, durfte reden. Ich musste fünfmal nachfragen, ob ich richtig gehört hatte oder ob das ein Witz war mit dem Wollknäuel. Aber das war kein Witz. Meine Mutter fand das auch gar nicht so witzig oder spannend, aber ich fand das, ehrlich gesagt, wahnsinnig spannend. Das muss man sich mal vorstellen: Zehn erwachsene Menschen sitzen im Kreis und werfen ein Wollknäuel rum. Hinterher war der ganze Raum voll Wolle, aber das war gar nicht der Sinn der Sache, auch wenn man das jetzt erst mal denken könnte. Der Sinn war, dass ein Gesprächsgeflecht entsteht. Woran man schon erkennen kann, dass meine Mutter nicht die Verrückteste in dieser Anstalt war. Da müssen noch deutlich Verrücktere gewesen sein.
    Und wenn jetzt einer glaubt, das Wollknäuel wäre nicht zu toppen, dann hat er vom Pappkarton noch nichts gehört. Jeder in der Klinik hatte nämlich auch einen Pappkarton in seinem Zimmer. Der hing knapp unter der Decke, mit der Öffnung nach oben, und in diesen Karton musste man immer Zettel reinwerfen wie in einen Basketballkorb. Zettel, auf die man vorher seine Sehnsüchte, Wünsche, Vorsätze, Gebete oder was geschrieben hatte. Immer wenn meine Mutter Wünsche hatte oder Vorsätze oder wenn sie sich Vorwürfe machte, dann hat sie das aufgeschrieben und den Zettel zusammengefaltet und dann praktisch Dirk Nowitzki: Dunking. Und das Irre daran war, dass nie jemand diese Zettel gelesen hat. Das war nicht der Sinn der Sache. Der Sinn der Sache war, dass man das einmal aufschreibt und dass es dann da ist und dass man sehen kann: Da hängen meine Wünsche und Sehnsüchte und der ganze Kack in diesem Pappkarton da oben. Und weil diese Kartons so wichtig waren, musste man denen auch einen Namen geben. Der wurde mit Filzstift auf den Karton draufgeschrieben, und dann hatte praktisch jeder Alki einen Karton auf seinem Zimmer hängen, der «Gott» hieß und wo seine Sehnsüchte drin waren. Weil, die meisten haben ihren Karton «Gott» genannt. Das war der Vorschlag vom Therapeuten gewesen, dass man den Gott nennen könnte. Man durfte ihn aber nennen, wie man wollte. Eine ältere
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