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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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meinen Anwalt sprechen.
    Das wäre der Satz, den ich jetzt wahrscheinlich sagen müsste. Das ist der richtige Satz in der richtigen Situation, wie jeder aus dem Fernsehen weiß. Aber das sagt sich so leicht: Ich möchte meinen Anwalt sprechen. Würden die sich wahrscheinlich totlachen. Das Problem ist: Ich habe keine Ahnung, was dieser Satz bedeutet. Wenn ich sage, ich möchte meinen Anwalt sprechen, und sie fragen: « Wen möchtest du sprechen? Deinen Anwalt?» – was soll ich dann antworten? Ich hab in meinem Leben noch keinen Anwalt gesehen, und ich weiß auch nicht, wozu ich einen brauche. Ich weiß nicht mal, ob Rechtsanwalt dasselbe ist wie Anwalt. Oder Staatsanwalt. So was Ähnliches wie ein Richter, nehme ich an, nur dass er auf meiner Seite steht und mehr Ahnung von Gesetzen hat als ich. Aber mehr Ahnung von Gesetzen als ich hat hier praktisch jeder, der im Raum ist. Jeder Polizist vor allem. Und die könnte ich natürlich fragen. Aber ich wette, wenn ich den Jüngeren frage, ob ich jetzt so eine Art Anwalt brauchen könnte, dann dreht der sich zu seinem Kollegen um und ruft: «Hey, Horst! Horschti! Komm mal her! Unser Held hier will wissen, ob er einen Anwalt braucht! Guck dir das an. Blutet den ganzen Boden voll, pisst sich in die Hosen wie ein Weltmeister und – will seinen Anwalt sprechen!» Hahaha. Da lachen die sich natürlich kaputt. Und ich finde, es geht mir schlecht genug, ich muss mich nicht auch noch zum Obst machen. Was passiert ist, ist passiert. Mehr kommt jetzt nicht. Da kann auch der Anwalt nichts mehr ändern. Weil, dass wir Mist gebaut haben, könnte nur ein Geisteskranker abzustreiten versuchen. Was soll ich sagen? Dass ich die ganze Woche zu Hause am Pool gelegen hab, fragen Sie die Putzfrau? Dass die Schweinehälften wie Regen vom Himmel gefallen sind? Viel kann ich jetzt wirklich nicht mehr tun. Ich könnte noch gen Mekka beten und mir in die Hosen kacken, sonst sind nicht mehr viele Optionen offen.
    Der Jüngere, der eigentlich ganz nett aussieht, schüttelt den Kopf und wiederholt: «Fünfzehn ist Quatsch. Vierzehn. Mit vierzehn bist du strafmündig.»
    Wahrscheinlich sollte ich jetzt Schuldgefühle haben und Reue und alles, aber, ehrlich gesagt, ich fühle überhaupt nichts. Mir ist einfach nur wahnsinnig schwindlig. Ich kratze mich unten an meiner Wade. Nur da, wo früher meine Wade war, ist jetzt nichts mehr. Ein violetter Streifen Schleim bleibt an meiner Hand kleben. Das ist nicht mein Blut, hatte ich vorhin gesagt, als sie mich gefragt hatten. Lag ja genug anderer Schleim auf der Straße, um den man sich kümmern konnte, und ich dachte wirklich, dass das nicht mein Blut ist. Aber wenn das nicht mein Blut ist, wo ist denn jetzt meine Wade, frage ich mich?
    Ich ziehe das Hosenbein hoch und gucke drunter. Dann habe ich noch genau eine Sekunde, um mich zu wundern. Wenn ich das im Film sehen müsste, würde mir mit Sicherheit übel, denke ich, und tatsächlich wird mir jetzt übel, auf dieser Station der Autobahnpolizei, was ja auch irgendwie beruhigend ist. Für einen kurzen Moment sehe ich noch mein Spiegelbild auf dem Linoleum auf mich zukommen, und dann knallt es, und ich bin weg.

2
    Der Arzt macht den Mund auf und zu wie ein Karpfen. Es dauert ein paar Sekunden, bis Worte rauskommen. Der Arzt schreit. Warum schreit denn jetzt der Arzt? Er schreit die kleine Frau an. Dann mischt sich der Uniformierte ein, eine blaue Uniform. Ein Polizist, den ich noch nicht kenne. Er weist den Arzt zurecht. Woher weiß ich überhaupt, dass das ein Arzt ist? Er trägt einen weißen Kittel. Könnte also auch ein Bäcker sein. Aber in der Kitteltasche hat er eine Metalltaschenlampe und so ein Horchding. Was soll ein Bäcker mit dem Horchding, Brötchen abhorchen? Wird schon ein Arzt sein. Und dieser Arzt zeigt jetzt auf meinen Kopf und brüllt. Ich taste unter der Bettdecke herum, wo meine Beine sind. Sie sind nackt. Fühlen sich auch nicht mehr bepisst an oder blutig. Wo bin ich denn hier?
    Ich liege auf dem Rücken. Oben ist alles gelb. Blick zur Seite: große, dunkle Fenster. Andere Seite: weißer Plastikvorhang. Krankenhaus, würde ich sagen. Das passt ja auch zum Arzt. Und klar, die kleine Frau trägt auch einen Kittel und einen Schreibblock. Und welches Krankenhaus, vielleicht die Charité? Nee, keine Ahnung. Ich bin ja nicht in Berlin. Mal fragen, denke ich, aber niemand beachtet mich. Weil, dem Polizisten gefällt das nämlich nicht, wie er da von dem Arzt angeschrien wird, und er
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