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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Hosenbein hochgemacht, und dann hab ich das gesehen und dann Schwindel und rums. Keine Fremdeinwirkung .» Gutes Wort. Kenn ich aus dem Tatort.
    «Also sicher?»
    «Sicher. Ja. Und die Polizisten total nett. Ich hab sogar ein Wasser gekriegt und ein Taschentuch. Nur eben Schwindel und dann seitlich runter.» Ich richte mich vor dem Schreibtisch auf und lasse mich schauspielerisch hochbegabt zweimal halb nach rechts kippen.
    «Gut», sagt der Arzt langsam.
    Er kritzelt etwas auf ein Papier.
    «Wollt ich nur wissen. Trotzdem unverantwortlich. Blutverlust … hätte man wirklich … sieht auch nicht so aus.»
    Er schließt den grünen Ordner und schaut mich lange an. «Und ich weiß ja nicht, geht mich vielleicht auch nichts an – aber das würde mich jetzt doch mal interessieren. Du musst nicht antworten, wenn du nicht magst. Aber – was wolltet ihr denn da eigentlich? Oder wohin?»
    «Keine Ahnung.»
    «Wie gesagt, du musst es nicht sagen. Ich frag nur interessehalber.»
    «Ich würd’s Ihnen sagen. Aber wenn ich’s Ihnen sage, glauben Sie’s eh nicht. Glaube ich.»
    «Ich glaub dir alles.» Er lächelt freundlich. Kumpelhaft.
    «Es ist albern.»
    «Was ist schon albern?»
    «Das ist … na ja. Wir wollten in die Walachei. Sehen Sie, Sie finden’s doch albern.»
    «Ich find’s nicht albern, ich hab’s nur nicht verstanden. Wohin?»
    «In die Walachei.»
    «Wo soll das sein?» Er sieht mich interessiert an, und ich spüre, dass ich rot werde. Wir vertiefen das dann nicht weiter. Zum Schluss geben wir uns noch die Hand wie erwachsene Menschen, und ich bin irgendwie froh, dass ich seine Schweigepflicht nicht überstrapazieren musste.

5
    Ich hatte nie einen Spitznamen. Ich meine, an der Schule. Aber auch sonst nicht. Mein Name ist Maik Klingenberg. Maik. Nicht Maiki, nicht Klinge und der ganze andere Quatsch auch nicht, immer nur Maik. Außer in der Sechsten, da hieß ich mal kurz Psycho. Das ist auch nicht der ganz große Bringer, wenn man Psycho heißt. Aber das dauerte auch nicht lang, und dann hieß ich wieder Maik.
    Wenn man keinen Spitznamen hat, kann das zwei Gründe haben. Entweder man ist wahnsinnig langweilig und kriegt deshalb keinen, oder man hat keine Freunde. Wenn ich mich für eins von beiden entscheiden müsste, wär’s mir, ehrlich gesagt, lieber, keine Freunde zu haben, als wahnsinnig langweilig zu sein. Weil, wenn man langweilig ist, hat man automatisch keine Freunde, oder nur Freunde, die noch langweiliger sind als man selbst.
    Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit. Es kann sein, dass man langweilig ist und keine Freunde hat. Und ich fürchte, das ist mein Problem. Jedenfalls seit Paul weggezogen ist. Paul war mein Freund seit dem Kindergarten, und wir haben uns fast jeden Tag getroffen, bis seine endbescheuerte Mutter beschlossen hat, dass sie lieber im Grünen wohnen will.
    Das war ungefähr zu der Zeit, als ich aufs Gymnasium kam, und das hat alles nicht leichter gemacht. Ich hab Paul dann fast gar nicht mehr gesehen. Das war immer eine halbe Weltreise mit der S-Bahn da raus und dann noch sechs Kilometer mit dem Fahrrad. Außerdem hat Paul sich verändert da draußen. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, und da ist er dann abgedreht. Ich meine, richtig abgedreht. Paul wohnt jetzt praktisch im Wald mit seiner Mutter und versumpft. Er hatte schon immer diese Tendenz zum Versumpfen. Man musste ihn immer antreiben. Aber da draußen hat ihn keiner mehr angetrieben, und er ist völlig versumpft. Wenn ich mich richtig erinnere, hab ich ihn auch höchstens drei Mal besucht. Es war jedes Mal so deprimierend, dass ich da nie wieder hinwollte. Paul hat mir das Haus gezeigt und den Garten und den Wald und einen Hochsitz im Wald, auf dem hat er immer gesessen, Tiere beobachten. Nur dass es da natürlich gar keine Tiere gab. Alle zwei Stunden flog ein Spatz vorbei. Und darüber hat er auch noch Buch geführt. Das war in dem Frühjahr, als gerade GTA IV rauskam, aber das hat Paul überhaupt nicht mehr interessiert. Nur noch diese Viecher. Einen ganzen Tag lang musste ich mit ihm auf seinem Hochsitz sitzen, und dann wurde es selbst mir zu blöd. Ich hab auch einmal heimlich sein Buch durchgeblättert, um zu gucken, was da sonst noch drinstand, weil, da stand noch ziemlich viel anderes Zeug drin. Sachen über seine Mutter standen dadrin und Sachen in Geheimschrift, und es gab Zeichnungen von nackten Frauen, ganz schreckliche Zeichnungen. Also nichts gegen nackte Frauen, nackte Frauen sind
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