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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition)
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Urlaub gefahren waren, weil mein Vater die ganze Zeit seinen Bankrott vorbereitete. Was mich nie gestört hatte, so gern bin ich mit meinen Eltern auch wieder nicht in Urlaub gefahren.
    Stattdessen hatte ich den ganzen letzten Sommer in unserem Keller gehockt und Bumerangs geschnitzt. Ein Lehrer von mir, einer aus der Grundschule, hat mir das beigebracht. Das war der totale Fachmann im Bumerangbereich. Bretfeld hieß der, Wilhelm Bretfeld. Der hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Sogar zwei Bücher. Das habe ich aber erst mitgekriegt, als ich schon aus der Grundschule raus war. Da hab ich den alten Bretfeld nochmal auf einer Wiese getroffen. Der stand praktisch direkt hinter unserem Haus auf der Kuhwiese und hat seine Bumerangs geworfen, selbstgeschnitzte Bumerangs – und das war auch wieder so eine Sache, wo ich nicht wusste, dass das funktioniert. Wo ich dachte, das gibt’s nur im Film, dass die wirklich zu einem zurückkommen. Aber Bretfeld war der Vollprofi, und der hat es mir dann gezeigt. Ich fand das wahnsinnig beeindruckend. Auch dass er seine Bumerangs alle selbst geschnitzt und bemalt hat. «Alles, was vorne rund und hinten spitz ist, fliegt», hat Bretfeld gesagt, und dann hat er mich über seine Brille hinweg angeguckt und gefragt: «Wie heißt du nochmal? Ich kann mich nicht an dich erinnern.» Was mich aber am meisten umgehauen hat, war dieser Langzeitflugbumerang. Das war ein von ihm selbst entwickelter Bumerang, der konnte minutenlang fliegen, und den hat er erfunden . Überall auf der Welt, wenn heute jemand einen Langzeitflugbumerang wirft und der bleibt fünf Minuten in der Luft, dann wird ein Foto gemacht, und dann steht da: basierend auf einem Design von Wilhelm Bretfeld. Der ist also praktisch weltbekannt, dieser Bretfeld. Und der steht da letzten Sommer auf der Kuhwiese hinter unserem Haus und zeigt mir das. Wirklich ein guter Lehrer. Das hatte ich auf der Grundschule gar nicht bemerkt.
    Jedenfalls hab ich die ganzen Sommerferien im Keller gesessen und geschnitzt. Und das waren tolle Sommerferien, viel besser als Urlaub. Meine Eltern waren fast nie zu Hause. Mein Vater fuhr von Gläubiger zu Gläubiger, und meine Mutter war auf der Beautyfarm. Und da hab ich dann eben auch den Aufsatz drüber geschrieben: Mutter und die Beautyfarm. Reizwortgeschichte von Maik Klingenberg.
    In der nächsten Stunde durfte ich sie vorlesen. Oder musste. Ich wollte ja nicht. Svenja war zuerst dran, und die hat diesen Quatsch mit der Côte d’Azur vorgelesen, den Schürmann wahnsinnig toll fand, und dann hat Kevin nochmal das Gleiche vorgelesen, nur dass die Côte d’Azur jetzt die Nordsee war, und dann kam ich. Mutter auf der Schönheitsfarm. Die ja nicht wirklich eine Schönheitsfarm war. Obwohl meine Mutter tatsächlich immer etwas besser aussah, wenn sie von dort zurückkam. Aber eigentlich ist es eine Klinik. Sie ist ja Alkoholikerin. Sie hat Alkohol getrunken, solange ich denken kann, aber der Unterschied ist, dass es früher lustiger war. Normal wird vom Alkohol jeder lustig, aber wenn das eine bestimmte Grenze überschreitet, werden die Leute müde oder aggressiv, und als meine Mutter dann wieder mit dem Küchenmesser durch die Wohnung lief, stand ich mit meinem Vater oben auf der Treppe, und mein Vater hat gefragt: «Wie wär’s mal wieder mit der Beautyfarm?» Und so fing der Sommer an, als ich in der Sechsten war.
    Ich mag meine Mutter. Ich muss das dazusagen, weil das, was jetzt kommt, vielleicht kein supergutes Licht auf sie wirft. Aber ich hab sie immer gemocht, und ich mag sie noch. Sie ist nicht so wie andere Mütter. Das mochte ich immer am meisten. Sie kann zum Beispiel sehr witzig sein, das kann man ja von den meisten Müttern nicht gerade behaupten. Und dass das Schönheitsfarm hieß, das war eben auch nur so ein Witz von meiner Mutter.
    Früher hat meine Mutter viel Tennis gespielt. Mein Vater auch, aber nicht so gut. Der eigentliche Crack in der Familie war meine Mutter. Als sie noch fit war, hat sie jedes Jahr die Vereinsmeisterschaften gewonnen. Und auch mit einer Flasche Wodka intus hat sie die noch gewonnen, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls war ich schon als Kind immer mit ihr auf dem Platz. Meine Mutter hat auf der Vereinsterrasse gesessen und Cocktails getrunken mit Frau Weber und Frau Osterthun und Herrn Schuback und dem ganzen Rest. Und ich hab unterm Tisch gesessen und mit Autos gespielt, und die Sonne hat geschienen. In meiner Erinnerung scheint im Tennisclub
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