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Trinken hilft

Trinken hilft

Titel: Trinken hilft
Autoren: Maxi Buhl
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machten einen die Arbeit, der Stress und die Fremdbestimmung. Mutter schüttelte nur den Kopf über so viel Eigensinn und war froh, geschieden und nicht mehr verantwortlich zu sein.
    Das Knie wurde immer schlimmer, der Schmerz strahlte auf das ganze Bein aus, und die Angel verstaubte unter dem Bett. Als das zweite Knie und die Schulter zu schmerzen anfingen, sodass er kaum mehr vom Bett hoch kam, schleppten ihn seine Platznachbarn in eine Praxis. Der Arzt wurde immer ernster.
    »Sie müssen irgendwann einmal von einer Zecke gebissen worden sein«, stellte er fest. »Können Sie sich erinnern?«
    Vater stieß ein gequältes Lachen aus. »Zecken! Ich fass es nicht! Da lebt man wie ein Eremit in der freien Natur, um zu sich zu kommen und gesund zu bleiben, und dann bringt einen die Natur zu Fall. Zecken? Jede Menge. Hab gar nicht mehr darauf geachtet. Ich dachte, wer in Harmonie mit sich lebt, ist immun gegen Krankheiten.«
    Das war nur der Anfang. Borreliose ist eine ernst zu nehmende Krankheit, der Syphilis sehr ähnlich. Mit Glück verursacht sie nicht mehr als arthritische Gelenkschmerzen mal hier und mal dort, sodass man sich freiwillig in den Rollstuhl setzen möchte. In schweren Fällen kann man Depressionen kriegen oder verrückt werden, erblinden, das Gehör verlieren und bewegungsunfähig vor sich hin dämmern. Mein Vater war ein schwerer Fall. Als ich aus Mexiko zurückkehrte, erkannte ich ihn kaum wieder. Dieser einst so kraftvolle Naturbursche war um Jahrzehnte gealtert. Als ich ihn zur Begrüßung umarmte, stöhnte er gequält auf. Neben seinem Bett stapelten sich die Medikamente. Mir kamen die Tränen. Ich wollte nicht wahrhaben, was offensichtlich war. Dass ich meinen baumstarken unfällbaren Vater für immer verloren hatte. Dass der, der mein Halt im Leben gewesen war, nun als Häufchen Elend selbst Unterstützung brauchte.
    »Du kannst hier nicht bleiben, in dieser Wildnis«, beschwor ich ihn. »Du musst ins Krankenhaus, oder ich nehme dich zu mir, wenn ich eine passende Wohnung gefunden habe.«
    Er wehrte ab. »Ich bleibe hier. Die Nachbarn helfen mir, sind großartige Leute. Mach dir keinen Kopf. Lebe du dein Leben, solange du kannst. Das ist mein einziger Wunsch.«
    Ja, und den erfüllte ich ihm. Ich baute mir ein eigenes Leben auf. Ging zur Kripo, denn im Spurenlesen bin ich einsame Klasse, das habe ich von ihm. An den Sonntagen besuchte ich ihn da draußen, schleppte ihm haufenweise Schmerzmittel an, erzählte ihm von meinen Kriminalfällen. Schreiend, da er schlecht hörte. Wenn ich merkte, dass es ihm zu viel wurde, verließ ich ihn wieder, von Schuldgefühlen bedrückt. Ich konnte es mir nicht verzeihen, dass ich ihn einst auf den Wohnwagen angesetzt hatte, der nun zu seiner Gruft geworden war. Verdammte Sonntage. Wie früher beneidete ich Melanie, als sie mir schrieb, sie habe ihren Vater beerdigt. Jetzt weißt du, warum ich Sonntage hasse.
    So weit Rosis Wort zum Sonntag.
    Eine Weile war es still zwischen uns beiden. Wir hingen unseren Gedanken nach, spülten sie mit Schampus hinunter und drückten uns die Hände. Der Blues aus der Bar gab uns erst recht den Blues. Diesmal half auch Trinken nichts. Mir fehlten die Worte, um sie zu trösten. Reden war nicht meine Stärke.
    »Es tut mir so leid für dich«, war das Einzige, was ich hervorbrachte. Wären wir in unserer Paarungskammer gewesen, hätte ich sie mit Küssen wiederbelebt, so wie sie mich aus meinem jahrelangen Wachkoma herausgeorgelt hat. Aber hier, zwischen diesen ganzen angespannten Bleichgesichtern, die wie ich jedes Heben und Sinken des Schiffes seismographisch registrierten, fühlte ich mich gehemmt wie ein Konfirmand und auf meinem Sessel festgeeist.
    Rosi spürte meine Hilflosigkeit. »Ich hab dir die Stimmung verdorben. Das tut mir leid. Komm, vergessen wir das Ganze. Ist ohnehin Schnee von gestern. Bestellen wir lieber noch eine Flasche!«
    »Schnee von gestern?« Ich fürchtete mich zu fragen. »Ist er schon … also dein Vater … ist er …?«
    »… du meinst gestorben?« Sie schüttelte den Kopf, und die Grübchen erblühten auf ihren Wangen. »Überhaupt nicht. Er lebt, und zwar von Woche zu Woche besser. Er ist ein medizinisches Wunder.«
    Ich atmete auf. Ich musste mich nicht als Seelsorger bewähren. Rosis prachtvollen Körper zu pflegen füllte mich vollkommen aus, wenn ich ehrlich sein soll.
    »Auf deinen Vater!« Ich hob ihr mein Glas entgegen. Darin hatte ich Übung, das war meine Art der Seelsorge. »Wie hat er
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