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Trinken hilft

Trinken hilft

Titel: Trinken hilft
Autoren: Maxi Buhl
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sich denn erholt?«
    Rosi fand wieder zu ihrer gewohnten Lebhaftigkeit zurück. »Die Musik hat ihn gerettet. Sacred harp , schon mal gehört?«
    Musik erschlägt mich. Aber das darf man nicht laut sagen, sonst gilt man als Kulturbanause. »Ich bin total unmusikalisch«, gestand ich. Da fiel mir der Hamborger Veermaster ein. Ihr offenbar auch. Sie erinnerte mich an unseren ersten Abend. »Das war die Euphorie«, gab ich zu.
    »Siehst du, Musik und Euphorie gehen Hand in Hand«, sagte sie überzeugt. »Bei meinem Vater läutete diese Tatsache die Wende ein. Wenn ich ihn besuchte und er zu müde zum Reden war, machte ich manchmal das Radio an. Irgendeinen Musiksender, wenigstens für mich, um die Stunden bei ihm zu überstehen. Eines Tages bat er mich, lauter zu drehen, er wollte plötzlich mithören. Sie brachten gerade eine Sendung über sacred harp , eine geistliche A-cappella- Musik der weißen Landbevölkerung aus Virginia. Vergleichbar mit den Spirituals der Schwarzen im Süden. Heute erlebt sie eine Renaissance, vorwiegend an der amerikanischen Ostküste. Aber auch in England gruppieren sich ihre Anhänger da und dort zu Chören, sogenannten conventions. Sie treffen sich freiwillig, mieten übers Wochenende Turnhallen, bringen alle etwas zu essen mit, das dann miteinander geteilt wird, und singen nur zu ihrer eigenen Freude, ohne Publikum oder Erfolgszwang, viele Stunden mit tiefer Inbrunst ihre alten Lieder, deren Noten sie in verstaubten Kirchenarchiven aufstöbern. Manchmal kommen mehrere hundert Sänger zusammen, junge und alte, aus allen Schichten. Du kannst dir vorstellen, was das für ein Tonvolumen ergibt. Mit Gottesdienst hat das heute nichts mehr zu tun. Und doch muss für meinen Vater ein göttlicher Funke übergesprungen sein, denn ihm kamen die Tränen, als diese schallenden Chöre übers Radio zum ersten Mal seine halb tauben Ohren erreichten. Er machte sich bisher nie viel aus Musik, im Gegenteil. Wenn Mutter ihn ins Konzert mitschleifen wollte, war Knatsch angesagt, und er lästerte über das Bildungsbürgertum. Aber nun hat’s ihn gepackt.«
    »Hört er wieder besser?«, wollte ich wissen. Für mich hörte sich diese Geschichte wie ein Märchen an, denn mich macht Musik taub.
    »Nicht nur das. Er singt selbst. Er tingelt jedes Wochenende zu einer convention . Im Rollstuhl, aber immerhin. Wenn sich sein Zustand weiterhin so verbessert, wird er in einem Jahr wieder laufen können.«
    »Sagtest du nicht, diese conventions fänden an der amerikanischen Ostküste statt?«
    »… und in England«, ergänzte sie. »Dort lebt er seit einem halben Jahr. Bei meinem Bruder. Der arbeitet in Leicester als Cybercop, und am Wochenende kutschiert er Papa zu seinen conventions . Florians Freundin findet das zwar nicht so spannend, aber da müssen sie durch, sagte ich ihm. Ich habe mich schließlich auch jahrelang in München um Papa gekümmert, als es ihm richtig dreckig ging. Jetzt, da es mit ihm rasant bergauf geht, ist es doch nur noch eine Frage der Zeit, bis er wieder selbstständig leben und Auto fahren kann.«
    Wir waren bei der dritten Flasche Champagner angekommen. Eigentlich mag ich dieses ganze perlende Zeug nicht. Es steigt mir zu schnell zu Kopf, und dauernd muss man rülpsen. Aber was einen gegen Windstärke 9 imprägniert, ist Medizin und muss nicht schmecken. Das Schiff hob und senkte sich von Stunde zu Stunde heftiger, schlingerte, brach immer wieder seitwärts aus und stauchte, dass mir die Augen hervortraten. Wider Erwarten blieb ich von der Seekrankheit verschont – aber das weiß man immer erst hinterher. Die Hälfte der Passagiere lief zementgrau an und dünstete hinter Schwaden von Eau de Cologne etwas Leichenhaftes aus. Zwar wird man bei schwerem Seegang auf so einem Megaschiff nicht wild hin und her geschleudert, dafür sorgen die Stabilisatoren. Trotzdem spürt man bei jedem Atemzug, wie der Boden unter den Füßen nachgibt. Ein surreales 3-D-Gefühl, das man nur mit blindem Vertrauen in die Technik aushält. Der Technik zu vertrauen erschien mir jedoch fahrlässig, zumal ich die Katastrophenberichte über die Estonia noch lebhaft vor Augen hatte. Fast beneidete ich die vergesslichen Alten um ihre Blackouts. Die tranken zwar auch, alle soffen auf Teufel komm raus, aber ich trank mit System.
    »Wenn schon ersaufen, dann wenigstens besoffen«, lallte ich Rosi ins Ohr, die versprach, mich zu retten.
    »Fett schwimmt oben, ich nehm dich einfach huckepack«, zerstreute sie meine
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