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Trinken hilft

Trinken hilft

Titel: Trinken hilft
Autoren: Maxi Buhl
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das Prädikat heile Familie .
    Und dann passierte das, was heile Familien nicht einplanen. Vater wurde von seiner Firma nach Brünn versetzt, das liegt in Tschechien, fast 600 km von daheim. Es hieß, nur vorübergehend, für ein Jahr. Mutter schimpfte: »Nur für ein Jahr – was denken sich diese Firmenmanager eigentlich? Sollen wir hier alles aufgeben, das Haus, meinen Job, die Schule, nur weil diese Mistkerle Schach mit dir spielen?«
    Vater nahm sich ein Zimmer in Brünn. Ein Jahr sei schnell vorbei, beruhigte er sie. Freitagnacht kam er genervt von der Autobahn nach Hause, den Koffer voller Dreckwäsche. Manchmal kam er erst samstags. Im Winter, bei Schneefall und Glatteis, blieb er auch schon mal ein Wochenende in Brünn. Im Frühjahr gibt es kein Glatteis mehr. Trotzdem kam er nur noch jedes zweite Wochenende. Mutter hatte sich mittlerweile angewöhnt, abends öfter auszugehen. Sie ist halt gesellig. Manchmal holte sie ein Typ mit Cabrio ab, gepflegtes Aussehen, herbes Rasierwasser, ganz Gentleman. Mir war er unsympathisch. Er schleimte uns an: Na, kleines Fräulein und Hallo, junger Mann und so’n Getue eben. Florian mochte ihn auch nicht. Darin waren wir uns einig.
    Im Sommer, als Papa sich mal wieder sehen ließ, erfuhren wir den neuesten Stand der Dinge. Unsere Eltern wollten sich scheiden lassen. Unsere Eltern sind fortschrittliche Leute. Man bleibt trotz Scheidung kooperativ. Kooperativ bedeutet, die Kinder sollen nichts vermissen, erklärten sie uns. »Du kannst jedes Wochenende die Kinder haben«, bot Mutter Paps an. Das Angebot klang demokratisch. Aber nur auf den ersten Blick. Das Angebot erstreckte sich nämlich nur auf uns Kinder, nicht auf unser Haus. Der Haken an dieser demokratischen Lösung war ganz simpel: das wohlbekannte, aber kaum zu bewältigende Problem, ganze Sonntage im Zoo verbringen zu müssen.
    Unser Vater war Wirtschaftsmathematiker in einem Konzern. Sein Interesse an Paarhufern oder Echsen war begrenzt. Gelangweilt schritt er zwischen uns den Besucherrundweg ab, nicht einmal die schläfrigen Raubkatzen vermochten ihn zu begeistern. Im Vertrauen gesagt, auch Florian und mich nicht. Wir waren nicht mehr im Kindergartenalter, wir sahen die Dinge bereits mit anderen Augen. Es ist ein Elend, diese Tiere eingesperrt zu sehen. Es ist, als ob es tausend Stäbe gäbe, und hinter tausend Stäben keine Welt , heißt es in einem Gedicht von Rilke über den Panther im Zoo. Nach fünf Zoobesuchen wussten wir alles über das Brutverhalten der Kalifornischen Schopfwachtel und schafften den Rundgang, der einen ganzen Nachmittag ausfüllen sollte, in fünfzig Minuten. Wohin mit den restlichen Stunden? Wir fühlten uns den Panthern sehr verbunden.
    Papa gähnte und schaute verstohlen auf seine Uhr, während wir am Kiosk schweigend unsere Bratwurst verdrückten. Wir waren keine Unterhaltungskünstler bei Tisch, wir waren es seit Vaters Auszug gewohnt, vor dem Fernseher zu essen. Der Fernseher – wie sehr vermissten wir ihn an diesen Sonntagen, wenn wir uns in zugigen Bahnhofskneipen, in langweiligen Museumscafeterias, in Dönerbuden und Pizzerias über den Tisch hinweg anödeten, bis die Besuchszeit um war. Zu Hause war Langeweile kein Thema gewesen, man war einfach beschäftigt. Jeder tat, wozu er Lust hatte. Man hatte Freunde zu Besuch oder lernte für die nächste Arbeit. Man verkrümelte sich mit Sherlock Holmes in eine Kuschelecke oder schaute Papa beim Heimwerken zu, denn Papa machte alles selbst. Man ließ sich von ihm zeigen, wie man einen Fahrradreifen flickt oder einen Hamsterkäfig bastelt, er half uns in Mathe und versorgte unsere Wunden. Es gab immer was zu tun, was uns mit Papa verband, und dabei quasselte man drauflos. Und nun saßen wir an fremden Tischen wie Gäste einer lahmen Party, die zu lange auf das Rücktaxi warten müssen. Die Unterhaltung stockt, man hat schon alles erzählt.
    Für gewöhnlich holte uns Papa am Sonntag nach dem Frühstück zu Hause ab. Den Samstag hatte er uns schon bald erspart. Zwei Tage hintereinander auf der Straße, das ging über unsere Kräfte. Bei aller Liebe!
    »Also, wo wollt ihr heute hin?«, lautete die Frage, die jedes Wiedersehen überschattete. Was soll man darauf antworten bei Nieselregen kurz über dem Gefrierpunkt? Wir wollten nirgendwo hin. Also erst mal im Auto bleiben, im Trockenen, so viel stand fest. Bei Nieselregen und einer Sicht von 100 Metern macht man keine Ausflüge ins Blaue. Auch das stand fest. Wir brauchten ein Ziel, ein
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