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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen
Autoren: Edith Kneifl
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Todesanzeigen in den Zeitungen, obwohl ich gehört habe, daß sich die Sargtischler bereits über den Rückgang ihrer Geschäfte beklagen. Die Waren, die auf der Straße verkauft werden, kommen vom Schwarzmarkt. Neben den Nahrungsmitteln werden aber nicht nur Abfälle verbrannt, sondern auch nicht identifizierbare Leichen. Bewaffnete Miliz patrouilliert an den strategisch wichtigen Punkten, manchmal verbarrikadieren sie sich noch hinter Sandsäcken. Um zweiundzwanzig Uhr leert das Ausgangsverbot die Straßen.«
    »Wer wird diese zerstörten Städte wieder aufbauen, die vielen ausgebrannten Gebäude wieder errichten? Wird man jemals die vielen Krater füllen können, die Granaten und Minen gerissen haben? Wer wird die Straßen von all den Autowracks und Barrikaden befreien? Und wer wird die niedergebrannten Felder wieder bepflanzen?« Enrico wundert sich über sich selbst, er traut seinen eigenen Worten nicht. Was geht ihn der Krieg dort drüben an? Er schenkt ihr ein unsicheres Lächeln, so als würde er sich für seine Worte entschuldigen.
    Sie ignoriert sein Lächeln und fährt mit ungetrübtem Eifer fort: »Man kann nicht dauernd dieselben Geschichten von gemeinen Heckenschützen, beinamputierten Kindern und verseuchtem Wasser schreiben. Jetzt noch Geschichten über Bosnien zu machen, ist verdammt schwierig. Es ist alles bis zum Erbrechen ausgereizt. Und trotzdem wird der Krieg, genauso wie im Nahen Osten, noch etliche Jahre unter Ausschluß der Öffentlichkeit weitergehen. Aber unsere Karawane zieht weiter. Auch ich habe schon einiges mehr auf meiner Liste: Golfkrieg, Somalia, Kurdistan, Ruanda. Es hat in den letzten sechs Jahren keinen Krieg gegeben, wo ich nicht mit dabei gewesen bin. Es ist das Gefühl: Ich muß es tun, weil es einfach wichtig ist. Aber irgendwann stumpft jeder ab.«
    »Das stimmt. Auch ich entdecke bei mir Anzeichen von Resignation, die in Zynismus umzuschlagen droht. Beim Anblick zerfetzter Körper am Bildschirm wende ich mich entsetzt ab. Aber hin und wieder lese ich dann doch noch von Menschen, die halbverhungert von einem LKW herunterfallen, und ich lese von der Aussiedlung, dem Genozid, von der Zerstörung der Kulturen ... Irgendwie hat mich Sarajewo immer an das Triest der Jahrhundertwende erinnert. Auch in Sarajewo hat Sprachverwirrung geherrscht. Denken Sie nur an die Vielzahl von Sprachen, die dort gesprochen worden sind. Sarajewo ist heute voll mit Ungesagtem. Ich habe mal gelesen, daß jedes Einschußloch in einer Wand, jede zerbrochene Fensterscheibe, jeder begrabene Körper ein Satz ist, der im Hals steckengeblieben ist. Die Menschen beginnen wieder zu sprechen, aber die Stadt stöhnt noch immer unter der Last der ungesagten Worte.«
    Enrico wiederholt all diese Sätze, die er irgendwo mal gelesen hat, ohne selbst an sie zu glauben. In Gedanken sieht er sich mit ihr in einem verstaubten, stickigen Zugabteil, eine Hand auf ihrer Brust, die andere um ihre Hüften. Und er träumt von ihren vollen Lippen, die sich langsam seinen Schenkeln nähern.
    Nahe daran, die Geduld mit ihm zu verlieren, sagt sie, heftiger als es ihre Absicht ist: »Fotografieren ist schließlich mein Job. Und es ist ein Job wie jeder andere auch. Aber ich warne Sie, vor Ort werde ich immer in höchstem Maße angespannt und aggressiv.«
    Wenn sie böse ist, gefällt sie ihm noch besser. Er lächelt sie versöhnlich an. »Sie haben mich überzeugt, ich komme mit. Aber Sie müssen auf mich aufpassen, ich kenne mich in der Zivilisation nicht mehr aus.«
    Sie scheint seine Art von Humor nicht zu verstehen, streckt ihm ganz ernsthaft ihre Hand hin und sagt: »Abgemacht.«
    Enrico hält ihre Hand länger in der seinen als bei einem Handschlag üblich.
    Sie schaut ihm tief in die Augen. Er weicht ihrem Blick nicht aus.
    »Der Cibalia-Express müßte bald kommen. Den Frühzug habe ich verpaßt, weil mein Zug so viel Verspätung gehabt hat. Der Nachtzug, der normalerweise um 17 Uhr 58 von Triest abfährt, hat aber auch viereinhalb Stunden Verspätung.«
    Er wirft einen Blick auf die große Uhr über dem Eingang.
    »Also haben wir noch Zeit, um auf unsere gemeinsame lange Reise anzustoßen.«
    In diesem Augenblick betritt der Weißhaarige wieder das Café. Er sieht sich kurz um, begegnet Enricos Blick und kommt an ihren Tisch. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen, fragt er, ob er sich zu ihnen setzen dürfe.
    Enrico deutet ihm mit einem Nicken, Platz zu nehmen. Er mustert ihn ausgiebig und ist jetzt endgültig
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