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Tricks

Tricks

Titel: Tricks
Autoren: Alice Munro
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Spannung als das, was Tessa allein gemacht hatte. Und noch ein anderer Umstand musste in Betracht gezogen werden. Sie hielt sich ganz wacker, soweit ihre Nerven und ihre körperliche Ausdauer reichten, aber ihre Kräfte, was immer das sein mochte, erwiesen sich als nicht sonderlich zuverlässig. Sie fing an, unsicher zu werden. Sie musste sich stärker konzentrieren als je zuvor, und oft klappte es nicht. Die Kopfschmerzen hielten an.
    Der Verdacht der meisten Menschen ist richtig. Solche Vorführungen sind voller Tricks. Voller Schwindel, voller Täuschung. Manchmal ist es wirklich nichts weiter. Aber worauf die Leute – die meisten Leute – hoffen, das ist gelegentlich auch richtig. Sie hoffen, dass nicht alles Schwindel ist. Und gerade weil Medien wie Tessa, die wirklich ehrlich sind, diese Hoffnung kennen und verstehen – wer könnte sie besser verstehen –, fangen sie an, bestimmte Tricks und Kunstgriffe zu benutzen, die garantiert zu den richtigen Ergebnissen führen. Denn sie müssen Abend für Abend diese Ergebnisse liefern.
    Manchmal sind die Mittel plump, wie die falsche Trennwand in der Kiste der Frau, die in zwei Hälften zersägt wird. Ein verborgenes Mikrofon. Häufiger wird ein Geheimcode benutzt, der zwischen der Person auf der Bühne und dem Partner im Zuschauerraum abgesprochen worden ist. Diese Geheimcodes können eine Kunst für sich sein. Sie werden streng gehütet, nichts wird schriftlich festgehalten.
    Nancy fragte, ob sein Geheimcode, seine geheime Absprache mit Tessa, eine Kunst für sich gewesen war.
    »Er war einfallsreich«, sagte er, und sein Gesicht hellte sich auf. »Voller Feinheiten.«
    Dann sagte er: »Wir haben auch ganz schönen Hokuspokus veranstaltet. Ich trat in einem schwarzen Umhang auf …«
    »Ollie. Wirklich. In schwarzem Umhang?«
    »Ganz genau. In schwarzem Umhang. Und ich bat jemanden, sich zur Verfügung zu stellen, und nahm den Umhang ab und legte ihn dem oder der Betreffenden um, nachdem Tessa die Augen verbunden worden waren – jemand aus dem Publikum tat das, achtete darauf, dass sie wirklich nichts mehr sehen konnte –, und dann rief ich ihr zu: »Wen habe ich im Umhang?« Oder: »Wer ist die Person im Umhang?« Oder ich sagte: »Mantel«. Oder »schwarzes Tuch«. Oder: »Was habe ich hier?« Oder: »Wen siehst du?« »Welche Haarfarbe?« »Groß oder klein?« Ich konnte es durch die Wörter machen, ich konnte es durch winzige Schwankungen im Tonfall machen. Immer genauere Einzelheiten. Das war unser Auftakt.«
    »Du solltest darüber schreiben.«
    »Das hatte ich vor. Ich dachte an etwas Entlarvendes. Aber dann dachte ich, wen kümmert das schon? Entweder wollen sich die Leute etwas vorgaukeln lassen oder eben nicht. Sie geben nicht viel auf Beweismaterial. Ein weiterer Einfall, den ich hatte, war ein Kriminalroman. Das Milieu ist wie geschaffen dafür. Und ich dachte an ein Filmdrehbuch. Hast du je den Fellini-Film gesehen …?«
    Nancy sagte nein.
    »Alles Quatsch, sowieso. Ich meine nicht den Fellini-Film. Ich meine die Ideen, die ich hatte. Damals.«
    »Erzähl mir von Tessa.«
    »Das muss ich dir geschrieben haben. Habe ich es dir nicht geschrieben?«
    »Nein.«
    »Dann muss ich es Wilf geschrieben haben.«
    »Das hätte er mir gesagt.«
    »Na ja. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war ich zu weit unten.«
    »In welchem Jahr war das?«
    Ollie konnte sich nicht erinnern. Der Koreakrieg war in vollem Gange. Harry Truman war Präsident. Anfangs sah es danach aus, als hätte Tessa nur die Grippe. Aber sie erholte sich nicht davon, sie wurde immer schwächer und bekam am ganzen Körper blaue Flecken. Sie hatte Leukämie.
    Sie saßen in einer Kleinstadt fest, mitten in den Bergen, mitten in der Sommerhitze. Sie hatten gehofft, vor dem Wintereinbruch bis nach Kalifornien zu kommen. Sie schafften es nicht einmal bis zu ihrem nächsten Auftrittsort. Die Leute, denen sie sich angeschlossen hatten, zogen ohne sie weiter. Ollie bekam etwas beim Rundfunksender der Stadt zu tun. Er hatte sich im Laufe der Auftritte mit Tessa eine gute Stimme zugelegt. Er verlas die Nachrichten, und er machte viele Werbespots. Einige davon verfasste er sogar selbst. Der eigentliche Mann dafür war weg und machte eine Goldkur oder so was, in einer Klinik für Trinker.
    Er und Tessa zogen aus dem Hotel in eine möblierte Wohnung. Die hatte natürlich keine Klimaanlage, aber zum Glück einen kleinen Balkon mit einem Baum davor. Er schob das Sofa dorthin, damit Tessa ein bisschen
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