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Tricks

Tricks

Titel: Tricks
Autoren: Alice Munro
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werden.
    Ein Laut, der ihm unabsichtlich entfährt – ein Laut der Klage oder Ungeduld –, hat sie erreicht. Sie geht zum Bett und beugt sich hinunter, um ihm die Schuhe auszuziehen.
    Er sagt ihr, sie solle sich nicht bemühen.
    »Ich muss in einer Minute wieder raus«, sagt er. »Ich muss gehen und mich mit denen treffen.«
    Mit
denen
sind die Leute vom Theater oder die Veranstalter des Abends gemeint, wer sie auch sein mögen.
    Sie sagt nichts. Sie steht vor dem Spiegel und betrachtet sich, und dann, immer noch unter der Last des schweren Kostüms und der Haare – es ist eine Perücke – und ihrer Seele, geht sie im Zimmer umher, als gäbe es vieles zu tun, aber als fände sie nicht die Ruhe dazu.
    *
    Sogar als sie sich vorbeugte, um Ollie die Schuhe auszuziehen, hat sie ihm nicht ins Gesicht geschaut. Und wenn er die Augen schloss, als er auf dem Bett landete – so denkt sie –, dann mag das gewesen sein, um ihr nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Sie sind ein berufliches Paar geworden. Sie schlafen und essen und reisen zusammen, eng gebunden an die Rhythmen des gegenseitigen Atems. Doch nie, nie – außer in der Zeit, wenn sie durch ihre gemeinsame Verantwortung den Zuschauern gegenüber aneinandergefesselt sind – können sie sich ins Gesicht schauen, aus Angst, dort etwas zu erblicken, das zu schrecklich ist.
    Es gibt an der Wand nicht genug Platz für die Frisierkommode mit dem blinden Spiegel – sie reicht ein Stück weit bis vor das Fenster und sperrt einen Teil des Lichts aus. Unschlüssig betrachtet Tessa sie einen Augenblick, dann nimmt sie ihre Kraft zusammen, um eine Ecke ein paar Zentimeter ins Zimmer hinein zu rücken. Sie atmet durch und zieht die schmutzige Tüllgardine auf. Dort, in der hintersten Ecke des Fensterbretts, an einer Stelle, die sonst von der Gardine und der Kommode verdeckt ist, liegt ein Häufchen toter Fliegen.
    Jemand, der kürzlich in diesem Zimmer war, hat sich die Zeit damit vertrieben, diese Fliegen zu töten, hat dann all die kleinen Leichen aufgesammelt und diesen Ort gefunden, um sie zu verstecken. Sie sind säuberlich zu einer Pyramide aufgehäuft, die nicht ganz zusammenhält.
    Tessa stößt bei dem Anblick einen Schrei aus. Nicht vor Ekel oder Angst, sondern vor Überraschung und, man könnte sagen, vor Freude.
Oh, oh, oh
. Diese Fliegen entzücken sie, als seien sie die Juwelen, in die sie sich verwandeln, wenn man sie unter ein Mikroskop legt, ganz blaues und goldenes und smaragdgrünes Aufleuchten, Flügel aus glitzernder Gaze.
Oh
, ruft sie aus, aber das kann nicht sein, weil sie strahlendes Insektengefunkel auf dem Fensterbrett sieht. Sie hat kein Mikroskop, und die Insekten haben im Tod all ihren Glanz verloren.
    Es ist, weil sie sie dort gesehen hat, sie sah das Häufchen winziger Leichen, die wild durcheinander zusammen zu Staub zerfallen, versteckt in dieser Ecke. Sie sah sie an diesem Ort, bevor sie die Kommode anfasste oder den Vorhang wegzog. Sie wusste, dass sie dort waren, in der Weise, wie sie Dinge weiß.
    Aber schon lange Zeit hat sie das nicht mehr erlebt. Sie hat nichts mehr gewusst und hat sich auf einstudierte Tricks und Kunstgriffe verlassen. Sie hat fast vergessen, hat bezweifelt, dass es je diese andere Weise gab.
    Sie hat jetzt Ollie aufgestört, seine unbehagliche Ruhepause unterbrochen. Was ist denn, sagt er, hat dich was gestochen?
    Nein, sagt sie. Sie zeigt auf die Fliegen.
    Ich wusste, dass sie da sind.
    Ollie begreift sofort, was das für sie bedeutet, was für eine Erlösung das sein muss, obwohl er an ihrer Freude nicht recht teilnehmen kann. Denn auch er hat einiges nahezu vergessen – er hat nahezu vergessen, dass er je an ihre Kräfte geglaubt hat, er kennt jetzt nur noch die Sorge, dass ihr gemeinsamer Schwindel gut klappt.
    Wann hast du es gewusst?
    Als ich in den Spiegel gesehen habe. Als ich zum Fenster gesehen habe. Ich weiß nicht, wann.
    Sie ist so glücklich. Früher war sie nie glücklich oder unglücklich über das, was sie konnte – sie hielt es für selbstverständlich. Jetzt leuchten ihre Augen, als sei der Schmutz aus ihnen fortgespült worden, und ihre Stimme klingt, als sei ihre Kehle mit Süßwasser erfrischt worden.
    Ja, ja, sagt er. Sie streckt die Arme hoch, legt sie ihm um den Hals und drückt ihren Kopf so fest an seine Brust, dass die Papiere in seiner Brusttasche knistern.
    Das sind Geheimpapiere, die er von einem Mann bekommen hat, den er in einer der vielen Städte kennengelernt hat – ein Arzt,
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