Tricks

von dem man weiß, dass er sich um Tourneeleute kümmert und ihnen manchmal mit Dienstleistungen gefällig ist, die über das Übliche hinausgehen. Er hat dem Arzt erzählt, dass er sich Sorgen um seine Frau macht, die stundenlang hintereinander auf dem Bett liegt und mit einem Ausdruck hungriger Konzentration die Decke anstarrt, die tagelang kein Wort sagt, nur das, was vor den Zuschauern notwendig ist (all das stimmt). Er hat erst sich selbst und dann den Arzt danach befragt, ob ihre außergewöhnlichen Kräfte nicht doch mit einer drohenden Störung ihres geistigen und seelischen Gleichgewichts in Verbindung stehen. Sie hat schon in der Vergangenheit unter Anfällen gelitten, und er befürchtet, dass etwas Ähnliches wieder bevorstehen könnte. Sie ist kein bösartiger Mensch, auch kein Mensch mit schlechten Gewohnheiten, aber sie ist kein normaler Mensch, sie ist ein einzigartiger Mensch, und das Zusammenleben mit einer einzigartigen Frau kann eine Strapaze sein, vielleicht sogar eine größere Strapaze, als ein normaler Mann sie aushalten kann. Der Arzt versteht das und hat ihm einen Ort genannt, an den sie gebracht werden kann, um sich auszuruhen.
    Er hat Angst, dass sie ihn fragt, was das für ein Geräusch ist, das sie bestimmt hört, als sie sich an ihn schmiegt. Er will nicht sagen,
Papiere
, damit sie nicht fragt, was für Papiere?
    Aber wenn ihre Kräfte wirklich zurückgekehrt sind – denn das denkt er, und zugleich kehrt seine fast vergessene, faszinierte Achtung vor ihr zurück –, wenn sie wirklich so ist wie früher, ist es dann nicht möglich, dass sie weiß, was in solchen Papieren steht, ohne je einen Blick darauf zu werfen?
    Sie weiß wirklich etwas, aber eigentlich will sie es nicht wissen.
    Denn wenn das damit verbunden ist, mit der Wiederkehr der Gabe, die sie einst hatte, dieser tieferen Sicht der Augen und den spontanen Offenbarungen der Zunge, ist sie dann nicht vielleicht ohne sie besser aufgehoben? Und wenn es darum geht, dass sie von diesen Kräften ablässt, statt dass diese Kräfte sie verlassen, könnte ihr diese Veränderung nicht willkommen sein?
    Sie könnten zusammen etwas anderes anfangen, glaubt sie, ein anderes Leben führen.
    Er nimmt sich vor, die Papiere so bald wie möglich wegzuwerfen, das ganze Vorhaben zu vergessen, auch er ist zu Hoffnung und Ehre fähig.
    Ja. Ja. Tessa spürt, wie das leise Knistern unter ihrer Wange all seine Bedrohlichkeit verliert.
    *
    Das Gefühl, begnadigt zu sein, erhellt die ganze Luft. So klar, so mächtig, dass die frühere Besonderheit unter seinem Ansturm dahinwelkt, forthuscht wie schmutziges altes Laub.
    *
    Aber tief in diesem Augenblick lauert eine Unsicherheit, die Nancy nicht wahrhaben will. Zwecklos. Sie ist sich bereits bewusst, dass sie entfernt wird, aus diesen zwei Menschen herausgezogen und in ihr eigenes Ich zurückversetzt wird. Es scheint, als habe ein ruhiger und entschlossener Mensch – könnte es Wilf sein? – es auf sich genommen, sie aus diesem Zimmer mit den Drahtbügeln und dem geblümten Vorhang hinauszuführen. Sie behutsam, aber unerbittlich wegzuführen von dem, was hinter ihr zu zerfallen beginnt, es zerfällt und verdunkelt sich sanft zu etwas wie Ruß und weicher Asche.

Impressum
    Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
    Coverabbildung: Elke Hesser/Getty Images
     
    Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel ›Runaway‹ bei Alfred A. Knopf, New York.
    © Alice Munro 2004
     
    Für die deutsche Ausgabe:
    © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
     
    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
    ISBN 978-3-10-402605-3



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