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Tricks

Tricks

Titel: Tricks
Autoren: Alice Munro
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frische Luft bekam. Er wollte sie, wenn es irgend ging, nicht ins Krankenhaus bringen – das Geld spielte dabei natürlich auch eine Rolle, denn sie waren überhaupt nicht versichert –, aber er war auch der Meinung, dass es da friedlicher für sie war, wo sie sehen konnte, wie die Blätter sich bewegten. Aber schließlich musste er sie doch einliefern, und dort war sie innerhalb von zwei Wochen gestorben.
    »Ist sie dort begraben?«, fragte Nancy. »Hast du nicht daran gedacht, dass wir dir Geld schicken würden?«
    »Nein«, sagte er. »Nein, auf beides. Ich meine, ich habe nicht daran gedacht, darum zu bitten. Ich fand, ich hatte die Verantwortung für alles. Und ich habe sie einäschern lassen. Ich bin mit der Asche aus der Stadt abgehauen. Ich habe es irgendwie bis an die Küste geschafft. Das war praktisch das Letzte, was sie zu mir gesagt hat, sie wollte verbrannt werden, und sie wollte auf den Wellen des Pazifischen Ozeans ausgestreut werden.«
    Und das hatte er dann auch getan, sagte er. Er erinnerte sich noch an die Küste von Oregon, an den Streifen Strand zwischen dem Ozean und der Fernstraße, den Nebel und die Kälte des frühen Morgens, den Geruch des Meerwassers, das melancholische Tosen der Wellen. Er hatte sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen und die Hosen aufgekrempelt und war hineingewatet, und die Möwen waren ihm nachgekommen, um zu sehen, ob er irgendetwas für sie hatte. Aber er hatte nur Tessa.
    »Aber Ollie …«, sagte Nancy. Doch dann konnte sie nicht weitersprechen.
    »Danach bin ich Trinker geworden. Ich habe irgendwie funktioniert, aber lange Zeit war ich innen drin Totholz. Bis ich einfach damit Schluss machen musste.«
    Er sah nicht zu Nancy auf. Es entstand ein lastender Augenblick, währenddessen er den Aschenbecher befingerte.
    »Ich nehme an, du bist zu der Feststellung gelangt, dass das Leben weitergeht«, sagte Nancy.
    Er seufzte. Vorwurf und Erleichterung.
    »Scharfe Zunge, Nancy.«
    *
    Er fuhr sie zu dem Hotel, in dem sie übernachtete. Beim Schalten krachte das Getriebe, überall in dem klapprigen Bus ratterte irgendetwas.
    Ihr Hotel war nicht besonders teuer oder luxuriös – es stand kein Portier davor, und drinnen waren keine kunstvollen Arrangements aus fleischfressenden Blütenpflanzen zu sehen –, doch als Ollie sagte: »Ich wette, hier ist lange nicht mehr so ein Schrotthaufen vorgefahren«, musste Nancy lachen und ihm recht geben.
    »Was ist mit deiner Fähre?«
    »Verpasst. Schon vor Stunden.«
    »Wo wirst du schlafen?«
    »Bei Freunden in Horseshoe Bay. Oder ich kann auch hier drin schlafen, wenn mir nicht danach ist, sie aufzuwecken. Ich hab schon oft genug hier drin geschlafen.«
    In ihrem Zimmer standen zwei Betten. Ehebetten. Sie konnte sich böse Blicke einhandeln, wenn sie ihn mit hinaufnahm, aber das würde sie aushalten. Zumal die Wahrheit himmelweit von dem entfernt war, was andere denken mochten.
    Sie holte vorbereitend Luft.
    »Nein, Nancy.«
    Die ganze Zeit über hatte sie darauf gewartet, von ihm ein einziges wahres Wort zu hören. Diesen ganzen Nachmittag lang oder vielleicht auch für einen Gutteil ihres Lebens. Sie hatte darauf gewartet, und jetzt hatte er es gesagt.
    Nein.
    Es konnte als Ablehnung des Angebots aufgefasst werden, das sie noch gar nicht ausgesprochen hatte. Es hätte auf sie arrogant wirken können, unerträglich. Aber was sie tatsächlich hörte, war klar und zärtlich und in dem Augenblick so voller Verständnis wie nur irgendein Wort, das je zu ihr gesagt worden war.
Nein
.
    Sie kannte die Gefahr, die in allem lag, was sie darauf sagen konnte. Die Gefahr ihres eigenen Verlangens, denn sie wusste nicht so recht, was für ein Verlangen das war, wonach es sie verlangte. Beide waren sie schon vor vielen Jahren davor zurückgeschreckt, und das mussten sie erst recht jetzt, da sie alt waren – nicht furchtbar alt, aber alt genug, um unansehnlich und absurd zu erscheinen. Und unglücklich genug, um die letzten Stunden damit verbracht zu haben, sich anzulügen.
    Denn auch sie hatte gelogen, durch ihr Schweigen. Und unter den gegebenen Umständen würde sie auch weiterhin lügen.
    »Nein«, sagte er wieder, in aller Bescheidenheit, aber ohne Verlegenheit. »Es würde nicht gutgehen.«
    Natürlich nicht. Und ein Grund dafür war, dass sie als Erstes, wenn sie nach Hause kam, an das Heim in Michigan schreiben würde, um herauszufinden, was aus Tessa geworden war, und um sie dorthin zurückzubringen, wohin sie gehörte.
    *
    Der Weg ist
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