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Treibland

Treibland

Titel: Treibland
Autoren: Till Raether
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Flachbildschirm. «Falsche Brille», murmelte er undeutlich und schluckte hinter beiläufig vorgehaltener Hand etwas hinunter.
    Danowski musste lachen. Er hatte plötzlich das Gefühl, den ersten richtigen Atemzug des Tages zu tun. Die Lindenblätter vor dem Fenster waren die grünsten, die er je gesehen hatte. Er setzte sich und sagte, während Licht in ihn strömte: «Sie werden mir mitteilen, dass ich keinen Hirntumor habe. Es ist alles in Ordnung. Natürlich, ich weiß, dies ist trotzdem der erste Tag vom Rest meines Lebens, aber wie lang dieser Rest sein wird, hängt mit nichts zusammen, was Sie mir heute hier in diesem Zimmer sagen werden.»
    «Guten Morgen, Herr Danowski», sagte der Arzt und nickte ihm zu, ohne aufzustehen. «Haben Sie sich Sorgen gemacht?»
    «Erst nicht. Dann ja. Heute Morgen sehr.»
    «Grundlos. Alle Untersuchungsergebnisse sind ohne Befund.»
    «Danke.»
    «Ich kann nichts dafür.»
    «Und jetzt werden Sie mir sagen, dass ich mehr Sport treiben soll, kürzer treten bei der Arbeit, auf meine Work-Life-Balance achten. Ich kenn die Formulierungen.»
    «Besser als ich anscheinend.»
    «Aber ich mache praktisch nur noch Routine, am liebsten Innendienst, ich hab mich schon vor Jahren versetzen lassen, um jeden Nachmittag um fünf zu Hause zu sein. Und trotzdem dröhnt mir der Schädel, ich bin erschöpft, mir ist alles zu viel.» Er merkte, dass er sich anhörte, als gebe er Dr. Fischer die Schuld daran.
    Der Arzt musterte ihn mit leicht zurückgelegtem Kopf durch die Brille, die zu weit vorn auf seiner Nase saß. Danowski spürte, dass Dr. Fischer etwas in petto hatte, dessen er sich selbst noch nicht ganz sicher war.
    «Woher wussten Sie, dass ich keine schlechten Nachrichten für Sie habe?», fragte er.
    «Die Art, wie Sie da gesessen haben», sagte Danowski, ohne nachzudenken. «Vornübergebeugt, nur mit Ihrem Rechner beschäftigt. Ich nehme an, Sie praktizieren seit etwa dreißig Jahren. Als Neurologe werden Sie immer wieder Menschen schlechte Nachrichten überbringen müssen. Und Sie werden sich, ob Sie es gemerkt haben oder nicht, ein gewisses Protokoll dafür zurechtgelegt haben. Sie werden es entweder sehr schnell oder sehr vorsichtig machen, und ich vermute, dass Sie aus einer Ärztegeneration kommen, in der man aufsteht und den Patienten mit Handschlag begrüßt und ihm in die Augen sieht, bevor man ihm sagt, dass er eine schwere Krankheit hat. Stattdessen haben Sie an Ihrem Computer herumgefummelt, weil es für Sie nichts Besonderes ist, Testergebnisse ohne Befund weiterzugeben. Ab und zu müssen Sie sich daran erinnern, dass es für Ihre Patienten von großer Bedeutung ist, aber … die Routine siegt.»
    Dr. Fischer nickte.
    «Vor allem das Käsebrot», fuhr Danowski fort. «Oder war es ein Wurstbrot? Sie haben irgendwas runtergeschluckt, als ich reinkam. Wahrscheinlich bin ich Ihr erster Patient, und Sie schaffen es manchmal nicht, zu Hause zu frühstücken. Aber wenn ich todkrank wäre, hätten Sie niemals von irgendwas abgebissen, bevor ich hier reinkam.»
    Der Arzt runzelte die Stirn. «Die meisten Menschen sind in emotionalen Stresssituationen ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Neun von zehn Patienten könnten nicht sagen, was ich getan habe, bevor ich ihnen einen Befund mitgeteilt habe.»
    «Ich interessiere mich eben für andere Menschen», sagte Danowski ironisch im Tonfall eines Bewerbungsgesprächs.
    «Wirklich?»
    «Es ist eher so, als würden die Informationen über andere Menschen auf mich einströmen, egal, ob ich mich für sie interessiere oder nicht.» Danowski wunderte sich über seinen Redefluss. Kein Wunder, dass ich Leslie nichts erzählt habe, dachte er. Man hört sich ja bescheuert an, wenn man so viel über sich selbst redet.
    Dr. Fischer nickte. «Ich glaube, dass bei Ihnen eine neurologische Besonderheit vorliegt.»
    «Irgendetwas, womit ich meinen Vater stolz machen oder meine Kinder beeindrucken kann?»
    «Seit zehn, fünfzehn Jahren wird die sogenannte Hypersensibilität beschrieben. Menschen mit dieser Eigenschaft sind weitaus empfänglicher als andere für Sinnesreize und Eindrücke, sie haben eine außerordentliche Wahrnehmung dafür, was in anderen vorgeht, und eine ausgeprägte Intuition.»
    «Hm», machte Danowski.
    «Die Kehrseite ist, dass sie schnell erschöpft und überfordert sind.»
    «Den Zusammenhang verstehe ich nicht», sagte Danowski.
    «Sie müssen sich das vorstellen wie bei einem Computer. Ihr Hirn speichert alle
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