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Treibland

Treibland

Titel: Treibland
Autoren: Till Raether
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den ungeklärten Todesursachen versetzt worden ist. Das wären zwei Typen, die ideal dafür wären. Nicht zu offensichtlich auf dem Abstellgleis, aber wo man die Garantie hätte: Die reißen in den nächsten zwei, drei Tagen nicht zu viele Bäume aus.»
    Sie fuhr sich durch ihre kurzen Haare, die in ihrer Erinnerung rotbraun waren, nahm ihre Gleitsichtbrille ab und rieb sich mit den Handballen die Augen. Der Inspektionsleiter ging zur weißen Tafel neben ihrer Tür, an der die Bereitschaftspläne hingen und in einem handschriftlich ergänzten Organigramm die Namen aller Kommissare. Er nahm einen Stift aus der Rinne und markierte mit je einem quietschenden Kreis zwei Namen.
    «Danowski und Finzi», sagte er und warf den Stift eine Spur zu klappernd zurück. «Wenn ich du wäre, würde ich die dafür einteilen. Die haben ja sowieso Bereitschaft diese Woche. Auf die Weise kann Danowski seine ersten Überstunden des Jahres machen. Aber nicht zu viele.»
    Er ging, nachdem sie genickt hatte. Während sie den Hörer nahm, um die beiden anzurufen, dachte sie: Meinetwegen. Das ziehe ich auch noch durch.

3 . Kapitel
    Ende der Achtziger hatte Danowski seinen ersten Aids-Test gemacht, kurz bevor er an seinem achtzehnten Geburtstag mit Leslie zusammengekommen war. Jetzt, wo er im Wartezimmer saß und auf den Neurologen wartete, erinnerte er sich an das Gefühl: ungläubige, unwirkliche Todesangst. Damals war es unwahrscheinlich, dass er sich bei einem einzigen One-Night-Stand mit HIV infiziert haben könnte, und trotzdem erschien es ihm, während er im zugigen Altbauflur des Zehlendorfer Gesundheitsamtes auf das Testergebnis wartete, absolut folgerichtig, dass es ausgerechnet ihn treffen würde. Nicht als Gottesstrafe oder Schicksal, sondern einfach, weil er kein Problem damit hatte, sich seine damals noch vergleichsweise kurze Lebensgeschichte mit dem Schlusssatz zu erzählen: «… und dann wurde eines Tages festgestellt, dass ich mich infiziert hatte.»
    Danowski erinnerte sich an das metallische, undurchdringliche Angstgefühl, und jetzt war es genauso, es war nicht logisch, aber es klang auch überhaupt nicht falsch: halbwegs glückliche Kindheit im Westen Berlins, die Eltern alte Hippies, Mutter früh gestorben, die große Liebe im 12 . Schuljahr getroffen und nie eine andere gesucht. Polizeiausbildung als einzige Möglichkeit zu rebellieren, der Umzug nach Hamburg, weil Leslie hier eine Stelle an einer guten Schule gefunden hatte, dann erste Tochter Stella, dann die Beförderung ins Dezernat für Tötungsdelikte. Eine Reihe von Ermittlungserfolgen, kurzfristig der Status als guter Polizist und Lieblingskind der Chefin, dann zweite Tochter Martha, dann die Erschöpfung, die Filmrisse, die Überforderung. Dann die Versetzung in die Abteilung für ungeklärte Todesfälle, weg vom Ermittlungsstress. Dann Stagnation im Job, Hirntumor, tot, Trauer, und das Leben der anderen ging ohne ihn weiter.
    Danowski schloss die Augen. Zehntausende Geschichten gingen so zu Ende. Warum nicht seine? Welches Recht hatte er darauf, nicht zu denen zu gehören, die «Warum ich?» fragen mussten?
    Er dachte daran, dass er heute Morgen kaum mit Martha gesprochen und sie nicht in den Arm genommen und vor allem: sie nicht abgekitzelt hatte. Was ihr Schönstes war. Es fiel ihm auf, als würde er die Vergrößerung einer Fotografie betrachten. Danowski konnte sich den Gesichtsausdruck von Martha, als sie aus dem Bad gekommen war und ihre große Schwester auf dem Arm ihres Vaters gesehen hatte, ganz genau vor sein inneres Auge holen: schon wieder zu spät, schon wieder nur Zweite.
    «Adam Danowski?» Er schlug die Augen auf. Eine junge Sprechstundenhilfe, deren Atem nach löslichem Cappuccino roch, beugte sich über ihn. Gereizte Haut an den frisch gezupften Brauen, der Lippenstift etwas unregelmäßig, eine blonde Strähne auf der linken Seite. «Dr. Fischer ist jetzt so weit. Ich dachte, Sie schlafen.»
    Danowski suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen: Holen Sie den Polizisten rein und seien Sie nett zu ihm, denn er wird gleich erfahren, dass er nur noch sechs Monate zu leben hat. Aber er sah nur wohlwollendes Desinteresse und etwas zu viel Mascara und dass sie ihren Chef nicht besonders mochte.
    Dr. Fischer saß hinter seinem Schreibtisch und stand nicht auf, als er Danowski hereinwinkte und mit der gleichen Bewegung auf den Patientenstuhl zeigte. Sein langer Oberkörper war über die Computertastatur gebeugt, und seine Stirn berührte fast den
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