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Treibland

Treibland

Titel: Treibland
Autoren: Till Raether
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Eindrücke in sehr viel höherer Auflösung als normal. Durch die Informationsflut ist Ihr Arbeitsspeicher überlastet, und Ihre Festplatte ist schneller voll. Sie brauchen Pausen, um Ihre Eindrücke zu verarbeiten. All das passiert automatisch und unfreiwillig, Sie können das nicht einfach abschalten. Vermutlich haben Sie diese Veranlagung schon Ihr ganzes Leben, aber je größer die Belastungen werden, desto mehr merken Sie das.»
    «Hypersensibel», sagte Danowski und fand, dass das Wort nicht zu ihm passte. «Wenn das einer auf der Dienststelle erfährt, bin ich erledigt.»
    «Es ist keine Krankheit. Es ist auch kein Symptom für irgendwas. Es ist einfach so, dass die Neuronenverbünde, die für die Reizdämpfung im Gehirn zuständig sind, bei Ihnen etwas unterentwickelt sind.»
    Danowski zeigte mit dem Kinn auf den Rezeptblock auf der Schreibtischunterlage. «Und jetzt? Reizblocker forte in Drageeform?»
    «Nein. Ein Beruhigungsmittel wie Adumbran oder Valium könnte Ihnen kurzfristig Erleichterung verschaffen, aber es würde nichts ändern. Menschen wie Sie wirken oft entweder schüchtern oder ruppig, zickig oder einfach sonderbar. Das kann zu Ausgrenzung führen. Dafür gibt es Selbsthilfegruppen.» Der Arzt reichte ihm eine Klarsichthülle mit einigen Kopien. Danowski blätterte mit dem Daumen durch die sechs, sieben Seiten und sagte zweifelnd: «Wirklich? Wikipedia und ein Zeitungsartikel? Das ist alles? Gab es dazu nichts in der
Apotheken-Umschau

    Dr. Fischer hob die Schultern und sagte: «Wie gesagt, es ist keine Krankheit. Und ich bin Arzt.»
    «Und was raten Sie mir? Als Arzt?»
    «Sie machen das schon richtig: Stress vermeiden. Und keine großen Menschengruppen. Keine unübersichtlichen Situationen. Achten Sie darauf, dass Sie immer Rückzugsmöglichkeiten haben, und begeben Sie sich nicht in Situationen, denen Sie sich nicht jederzeit entziehen können.»
    «Okay», sagte Danowski. Er war erschöpft, verwirrt und erleichtert und auch ein bisschen befremdet von dem neuen Etikett, das man ihm angeklebt hatte. Eine Gefühlsmischung, die ihn an die Minuten unmittelbar nach seiner standesamtlichen Trauung vor zwölf Jahren erinnerte.
    «Es wäre Ihnen lieber, wenn ich jetzt gehe», sagte er und stand auf, «denn Sie haben noch andere Patienten. Aber Sie wollen den Termin nicht einfach beenden, weil Sie wissen, dass ich mich fühle, als wäre ich gerade dem Tod entronnen. Außerdem würden Sie sich von mir ein wenig mehr Dankbarkeit dafür wünschen, dass Sie als Arzt sich ins unwissenschaftliche Gebiet schlecht erforschter neurologischer Phänomene begeben haben. Andererseits ist es Ihnen egal, denn Sie sind nicht mein Hausarzt, und es ist fast ausgeschlossen, dass wir uns, solange Sie praktizieren, noch einmal begegnen werden.»
    «Wie gesagt: schüchtern, ruppig, zickig oder einfach sonderbar», sagte Dr. Fischer und gab ihm die Hand.

4 . Kapitel
    Auf der Ottenser Hauptstraße sah Danowski, dass es erst kurz nach halb neun war. Von tödlich erkrankt auf einfach nur gestört in unter einer halben Stunde: Das musste ihm erst mal einer nachmachen. Er beschloss, nicht ins Präsidium zu fahren, sondern zu Fuß zur Stresemannstraße zu laufen, um dort im Revier zwischen Autowaschanlage und Aral-Tankstelle Ermittlungsakten einzusehen über eine Häufung von Todesfällen in einem Pflegeheim am Volkspark. Wahrscheinlich nichts mit Relevanz für die Strafverfolgung, aber ein guter Weg, um den Vormittag über die Runden zu bringen, ohne sich mit den Kollegen im Präsidium herumplagen zu müssen. Er strich über seinen Anzug, wie er es früher als Raucher getan hatte, auf der Suche nach Zigaretten und Feuerzeug.
    Kurz vor Stellas Geburt hatten Leslie und er das Vorhaben aufgeschoben, aus ihrer preiswerten Genossenschaftswohnung in Bahrenfeld ins familienfreundliche, beliebte und schrecklich schön kleinstädtische Ottensen zu ziehen. Weil sie es beide unsinnig fanden, mit einem Neugeborenen umzuziehen. Und weil Danowski die stille Hoffnung gehabt hatte, dass sie eher früher als später zurück nach Berlin gehen würden. Zehn Jahre später waren die Mieten in Ottensen doppelt so hoch wie damals, der Quadratmeter Neubau-Eigentumswohnung kostete fünftausend Euro, und die Familie Danowski blieb, wo sie war. «Bahrenfeld, Alter», hatte sein Kollege Finzi damals gesagt. «Ich habe zwanzig Jahre gebraucht, um da rauszukommen, und ihr zieht dahin.»
    Dann klingelte ein Kinderfahrrad, und er wich einen Schritt zur
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