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Treibland

Treibland

Titel: Treibland
Autoren: Till Raether
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Hauswand aus, um ein Laufrad und eine Mutter mit Hollandrad und Kindersitz vorbeizulassen, und dann noch eine. Und dann einen Vater und noch mehr Kinder. Die morgendliche Prozession zum Neun-Uhr-Frühstück in den Kindergärten, wenn seine Töchter schon seit über einer Stunde in der Frühbetreuung und in der Schule waren. Danowski probierte ein Lächeln und suchte einen Mülleimer für die Unterlagen. Der am nächsten Laternenpfahl war hoffnungslos überfüllt.
    «Hey, Krawatte!» Danowski drehte sich um und sah, dass sein Kollege Finzi mit einem schwarzen Fünfer- BMW die enge Ottenser Hauptstraße blockierte. Finzi hatte das Fenster heruntergelassen, beugte sich über den Beifahrersitz und rief: «Zu deiner Konfirmation bitte hier einsteigen!»
    Danowski gab sich einen Ruck, machte eine entschuldigende Geste zu den Autos hinter Finzi und stieg ein. Er brauchte einen Augenblick, um sich auf die neue Situation einzustellen. Der vertraute Geruch im Wageninneren half ihm dabei: ein nicht mehr neuer Fuhrparkwagen, der oft zur Observation eingesetzt wurde und unzähligen Kollegen als Aufenthaltsraum, Ess- und Schlafzimmer gedient hatte. Willkommen zu Hause. Er knüllte die Plastikhülle mit den Ausdrucken, die der Arzt ihm gegeben hatte, ins Seitenfach der Beifahrertür. Jedes Mal fiel ihm auf, dass Finzi nicht nach Alkohol roch. Weil er das früher morgens immer getan hatte. Finzi sah aus, als hätte er die Nacht in einem schlecht beleuchteten Keller verbracht: ein bisschen zerknautscht, die Augen schmal vom ungewohnten Licht. Er sprach laut und immer ein wenig übertrieben, als müsste er es üben, weil er außerhalb der Arbeit meistens allein war.
    «Ich trage Anzüge, seit ich bei der Dienststelle bin, und du machst dich immer noch darüber lustig? Wirklich?», sagte Danowski und schnallte sich an. Seit er in Tötungsdelikten ermittelte, verkleidete er sich für seine Arbeit, damit er abends etwas zum Ausziehen und Weghängen hatte. Finzi lebte mit Anfang fünfzig noch immer stur den Gegenentwurf: Kapuzenpulli, Parka, ausgewaschene Jeans, Laufschuhe und T-Shirt. Klamotten für einen Grundschüler, dachte Danowski.
    «Ein dünner Hering wie du sieht im Anzug immer aus, als hätte er was ausgefressen», sagte Finzi.
    «Wo kommst du eigentlich her? Und wohin fahren wir? Ich muss die Pflegeheimakten in der Stresemannstraße abholen. Sprich mit mir, Andrea.» Finzi war eine Art Halbitaliener, hieß jedoch in Wahrheit Andreas Finzel. Seine Mutter stammte aus Würzburg und war nach dem Krieg nach Hamburg gekommen, weil sie die Sache mit dem Tor zur Welt geglaubt hatte. Dann lernte sie einen stämmigen Matrosen auf Landgang kennen, den sie für einen Italiener hielt und der von der Bildfläche verschwand, nachdem er sie geschwängert hatte. Sodass der kleine Andreas in dem nostalgischen Bewusstsein aufwuchs, Halbitaliener zu sein. Erst als Teenager war ihm klar geworden, dass seine Mutter hinsichtlich der Nationalität seines Vaters kaum mehr als ein Bauchgefühl hatte und er genauso gut Halbbulgare oder Halbportugiese sein mochte. Mit einer Mischung aus Trotz und Selbstironie ließ er sich Finzi nennen.
    «Planänderung», sagte Finzi. «Wir haben einen Einsatz. Und Leslie hat mir verraten, wo du bist.»
    «Leslie wusste gar nicht, wo ich bin.»
    «Sie wusste zwei Dinge: Du bist beim Neurologen und du bist zu Fuß. Es gibt nur zwei Neurologen in fußläufiger Entfernung von eurer Wohnung. Kriminalpolizei, Finzi. Hält sich bei Ihnen ein Typ mit viel zu dünner Krawatte auf? Und dann zack, Blaulicht aufs Dach und ab durch die Fußgängerzone. So einfach geht das. Kennst du ja vielleicht noch von früher. Als du noch draußen unterwegs warst und nicht freiwillig Dienstpläne und Protokolle geschrieben hast.»
    «Leslie hat dir erzählt, dass ich beim Neurologen bin?»
    «Deine Frau hat keine Geheimnisse vor mir.»
    «Du bist nicht im Ernst mit Blaulicht gefahren.»
    «Natürlich nicht. Wir sind in Hamburg, das Blaulicht ist kaputt. Und du hast nicht im Ernst einen Hirntumor, oder?»
    «Nein. Aber dafür hab ich dich.» Danowski wunderte sich über Leslie.
    «Und warum muss jemand mit so einem winzigen und aristokratischen Schädel wie du zum Neurologen?»
    «Wegen meiner Migräne.»
    «Na gut, dann lass ich dich heute Abend in Ruhe.»
    Danowski atmete aus und holte seine Sonnenbrille aus der Brusttasche. Er griff nach einem der beiden Pappbecher im Getränkehalter. Ohne nachzudenken, führte er ihn zum Mund. Bitter und
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