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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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nicht ein flüchtiges Lächeln über Elenas verhärmtes Gesicht gehuscht? Henning nahm es als positives Zeichen, dass sie ihm seine unbedachte Äußerung nicht länger nachtrug. »Ich kann Ihnen nur helfen«, wagte er mit sanfter Stimme einen weiteren Vorstoß, »wenn Sie mir erzählen, was passiert ist.«
    Elena löste ihre vor dem Oberkörper verschränkten Arme und schloss die Augen.
    Im selben Moment verselbstständigten sich ihre Gedanken und die damaligen Ereignisse spulten sich wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. »Die Scheißfotos«, begann sie, und als Henning irritiert guckte, erzählte sie stockend, dass sie als freiberufliche Fotografin gearbeitet hatte. »Der Bildband über Rügen, es war ein interessanter Auftrag, und Danko, mein Mann, hat vorgeschlagen, doch ein paar Tage Ostseeurlaub damit zu verbinden. Unsere damalige Pension befand sich in der Nähe des Sassnitzer Hafens.« Elena rief sich die Ansicht des mit Reedgras gedeckten Ferienhäuschens ins Gedächtnis zurück. »Danko und Lea haben mich, wann immer es sich anbot, auf meinen Streifzügen entlang des Jasmunds begleitet. Bekam ich dabei ein geeignetes Motiv vor die Kamera, brauchte ich nur noch den Auslöser zu drücken. Für den zwölften Dezember hatte der Wetterbericht ein von Norden her kommendes Sturmtief vorhergesagt. Alles, was mir in meiner Sammlung noch fehlte, waren Aufnahmen einer tosenden See, die den Kampf des Meeres mit den Urgewalten widerspiegelten.«
    Obwohl sich ihre Miene bei der Erinnerung daran verdüsterte, sprach sie tapfer weiter: »Ausgerechnet an dem Morgen plagten Danko Magenkrämpfe. Ihm ging’s so elend, dass er weder nach draußen gehen noch auf Lea aufpassen konnte. Aber ich brauchte diese Fotos, das Wetter war ideal. Der Bildband über Rügen … Und am nächsten Tag wollten wir nach Hause fahren … Also habe ich Danko mit einer Kanne Kamillentee versorgt. Danach bin ich mit Lea zum Parkplatz an der Waldhalle gefahren. Dort angekommen schlief Lea. Ich legte sie in den Kinderwagen und machte mich mitsamt der Kameraausrüstung auf den Weg zu den Wissower Klinken.«
    Mit jedem ihrer Worte schien Elena tiefer und tiefer in die Vergangenheit einzutauchen. Ihr in sich gekehrter Blick und ihre immer leiser werdende Stimme ließen ihren Schmerz erahnen. Trotz der vergangenen Zeit konnte sie sich noch an jedes Detail erinnern: »Es war über Nacht kalt geworden. Nieselregen hatte die Wege in gefährliche Rutschbahnen verwandelt. Und der mit Orkanstärke wehende Nordostwind peitschte immer neue Wellenberge gegen die Klippen. Doch ich war wild entschlossen, mir von der rauen Witterung keinen Strich durch die Rechnung machen zu lassen. Schließlich war es das ideale Wetter für die noch fehlenden Aufnahmen. Lea ließ sich davon nicht beeindrucken; sie schlief wie ein Murmeltier. Dennoch hätte ich beinahe umkehren müssen, als ich an einen Abstieg gelangte, der für mich allein mit dem Kinderwagen nicht zu bewältigen war. Zum Glück kamen zwei Jogger vorbei, die mir beim Tragen halfen.« Elena schluckte. »Aus heutiger Sicht war es natürlich alles andere als Glück.«
    »Das war ganz schön mutig«, meinte Henning. Er versuchte sich die junge Frau in dieser Ausnahmesituation vorzustellen.
    »Vielleicht war es auch nur verantwortungslos«, räumte Elena mit einem hilflosen Achselzucken ein. »Aber ich …, ich brauchte die Aufnahmen doch so dringend.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als sie mit vor Erregung rauer Stimmer hinzufügte: »Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, den Kinderwagen unbeaufsichtigt abzustellen. Ach, hätte ich doch bloß auf die gut gemeinten Ratschläge der Jogger gehört und wäre umgekehrt! Vielleicht hätte das Schicksal dann eine andere Wendung genommen und Lea …«
    Mit bebenden Nasenflügeln suchte sie nach einem Taschentuch. Wortlos schob Henning ein Päckchen Tempos über den Tisch.
    Nachdem ihre Tränen versiegt waren, schilderte Elena, wie sie ein paar Meter nach der Ernst-Moritz-Arndt-Sicht beschlossen hatte, den Hauptweg zu verlassen, um sich über Nebenpfade in unmittelbare Nähe der Klippen durchzuschlagen. »Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich kaum wahrnahm, wie der eisige Regen meine Kleidung durchdrang und mir in nadelfeinen Stichen ins Gesicht peitschte. Eine halbe Stunde später erreichte ich eine Stelle, an der es weder eine Absperrung noch ein Geländer gab. Dafür war der Ausblick, der sich durch eine Lücke zwischen den Bäumen am Abgrund bot, umso
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