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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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betreten, brach Elena zum ersten Mal seit fast zwei Jahren ihr selbst auferlegtes Schweigen. Ihre Stimme hörte sich rau und fremd an. Erstaunt lauschte sie ihrem Klang nach. Auch die Schwester brauchte einen Augenblick, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Dann eilte sie hinaus, um gleich darauf mit dem Stationsarzt zurückzukommen.
    Elena galt als hoffnungsloser Fall. Ungläubig überzeugte sich der Arzt davon, dass sie tatsächlich die Sprache wiedergefunden hatte. Überwältigt schüttelte er den Kopf und sprach von einem Wunder.
    Einem Wunder, dem bald schon die Ernüchterung folgte, als Elena auf den Grund dafür zu sprechen kam: »Meine Tochter lebt!«, stieß sie mit vor Erregung vibrierender Stimme hervor. »Sie müssen mir glauben. Das ist keine Einbildung. Ich habe sie im Fernsehen gesehen. Sie …«
    »Ist ja gut, ist ja gut«, beschwichtigte sie der Arzt.
    Doch Elena ließ sich nicht täuschen. »Ich kann beschwören, dass es Lea war«, bekräftige sie ihre Worte. »Bitte, helfen Sie mir, mein Kind zu finden!«

2
     
     
    Das Schrillen des Telefons riss den pensionierten Kriminalkommissar Henning Lüders unsanft aus seiner Mittagsruhe. Müde rieb er sich den Schlaf aus den Augen. Seit er zur Aufklärung der auf Pascal Austens Konto gehenden Frauenmorde beigetragen hatte, war es ruhig um ihn geworden, zu ruhig für seine Begriffe. Ihm graute vor einem weiteren dieser langen und einsamen Winterabende.
    Noch ganz benommen setzte er sich auf. Sein Blick streifte die Tageszeitung und blieb an einer im Auftrag des Bundesforschungsinstituts für Tiergesundheit erstellten Studie haften. Die Überschrift ließ ihn an seine Puten und Hühner denken, von denen er sich wegen des auf Rügen nachgewiesenen Vogelgrippeerregers H5N1 hatte trennen müssen. Wegen ihrer aufwendigen Haltung hatten sie ihm das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden. Um sich einen Ausgleich zu schaffen, war er zur Bienenzucht übergegangen. Seither stand ein zum Bienenhaus umfunktionierter Bauwagen in seinem Garten und statt des Frühstückseis gab es Honig aus eigener Produktion.
    Als er nach dem Hörer griff, bedauerte er ein weiteres Mal, dass das Frühjahr noch in so weiter Ferne lag.
    Sein Freund Peer war am Apparat. »Marlies lässt fragen, ob du Lust hast, uns heute Abend beim Essen Gesellschaft zu leisten? Es gibt gebratene Scholle mit Kartoffelsalat.«
    Natürlich wollte Henning. Schon der bloße Gedanke an den in goldgelber Butter gebratenen Fisch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seine Laune besserte sich schlagartig.
    Er griff sich seine Winterjacke, stülpte die Strickmütze über sein schütter gewordenes Haar und ging nach draußen. Obwohl er auf die 70 zuging, war sein Gang noch immer aufrecht und gerade. Kaum hatte er die Haustür hinter sich ins Schloss gezogen, kam ihm sein Dackel Rex entgegengeeilt. Er und Asta hatten seinem Patenonkel gehört. Seit die Hündin im letzten Herbst an Altersschwäche gestorben war, hing Rex wie ein Schatten an ihm.
    Henning leinte ihn an und gemeinsam schlugen sie den Weg in Richtung Strand ein, über das an sein Grundstück grenzende Feld. In Höhe des ›Strandhauses‹ angekommen, überquerten sie die nach Göhren führende Straße und bogen auf einen schmalen Pfad ab, der an einer Pferdekoppel vorbei hinunter zum Nordstrand führte. Die mit ›Rügenressort Lobbe‹ überschriebene Bautafel ließ Henning missmutig den Kopf schütteln. Seine Miene verdüsterte sich. Er konnte und wollte nicht glauben, dass hier in Kürze 80 Ferienwohnungen und 19 Ferienvillen samt Wellnesszentrum aus dem Boden gestampft werden sollten. Es machte ihn wütend und hilflos, dass dafür 85.000Quadratmeter unberührter Natur geopfert werden sollten. Er fragte sich, wie man so kurzsichtig sein konnte. Doch sobald Geld ins Spiel kam, schwand alle Vernunft dahin. Dabei stand die Insel im Sommer schon jetzt kurz vor einem Verkehrsinfarkt. Noch mehr Touristen würden die Situation nur weiter verschärfen, die für die Einheimischen ohnehin schon frustrierend war. Henning war davon überzeugt, dass das bittere Erwachen nicht lange auf sich warten lassen würde. Nur wäre es dann zu spät. Eine alte Indianerweisheit kam ihm in den Sinn: ›Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.‹ Wie wahr, dachte er seufzend.
    Inzwischen trennte sie nur mehr ein schmales Waldstück vom Steilufer. Vor ihm stürmte
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