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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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den eiskalten Fluten den Tod gefunden. Um ganz sicherzugehen, haben wir den Unfall mit einem baugleichen Kinderwagen und einem Babydummy rekonstruiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das Kind von der starken Strömung aufs offene Meer hinausgezogen.«
    »Aber irgendetwas muss doch diesen plötzlichen Sinneswandel bei ihr ausgelöst haben«, beharrte Marlies auf ihrem Standpunkt.
    Um die Debatte zu entschärfen, schlug Henning vor: »Ich könnte ja mal mit ihr reden. Allerdings würde ich mir an deiner Stelle nicht allzu viel davon versprechen.«
    »Keine Angst, das werd ich schon nicht. Hauptsache, Elena fühlt sich von dir ernst genommen.«
    »Soll das heißen, ihr nehmt sie nicht ernst?«
    »Natürlich tun wir das. Nur mit dem Unterschied, dass unsere Arbeit nicht darauf abzielt, ihre Behauptung zu beweisen, sondern sie zu analysieren. Uns interessiert lediglich das sich dahinter verbergende Verhaltensmuster. Psychologen setzen nun mal andere Schwerpunkte. Alles, was ich von dir möchte, ist, ihr zuzuhören und dir ein Bild zu machen. Wenn du danach immer noch der Meinung bist, die Sache sei es nicht wert, weiterverfolgt zu werden, dann war’s das eben. Ich möchte nur nichts unversucht lassen, verstehst du das?«
    Henning nickte. Der Fall hatte seine Neugier geweckt

3
     
     
    Sobald Marlies ihr Vorhaben mit den Ärzten besprochen und sich Elenas Einverständnis geholt hatte, rief sie Henning an. Als er sich tags darauf hinter das Steuer seines Wagens setzte, um zu dem vereinbarten Termin in die Klinik in Stralsund zu fahren, kamen ihm erneut Bedenken.
    Doch dann stand er Elena Dierks gegenüber. Ihr Anblick rührte ihn derart, dass er all seine Zweifel über Bord warf und ihr warm lächelnd die Hand reichte.
    Um ihnen eine ungestörte Unterhaltung zu ermöglichen, hatte sich die Klinikleitung nach anfänglichem Zögern bereit erklärt, ihnen einen der Aufenthaltsräume zur Verfügung zu stellen. Eine Pflegerin brachte sie in ein Zimmer, dessen Fenster vergittert waren. Henning fühlte sich wie in einem Vernehmungsraum. Doch er versuchte sich seine Empfindungen nicht anmerken zu lassen. Schließlich waren sie nicht hier, um die Aussicht zu genießen. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, steuerten sie einen der Resopaltische an und nahmen einander gegenüber in orangefarbenen Plastikstühlen Platz.
    Henning legte sich Notizbuch und Stift zurecht. Er registrierte, wie Elena ihn dabei verstohlen musterte. Sie wirkte verunsichert. Als ihre Blicke sich begegneten, meinte er, in ihren Augen die bange Frage lesen zu können, ob sie ihm trauen konnte.
    »Weshalb sind Sie …? Ich meine …«
    »Weshalb ich hier bin?«
    Sie beantwortete seine Rückfrage mit einem unmerklichen Nicken.
    Mit einem aufmunternden Lächeln fügte er hinzu: »Schwester Marlies schickt mich. Sie bat mich darum, mir Ihre Geschichte anzuhören.«
    Kaum hatte er seinen Satz beendet, verdüsterte sich Elenas Miene. »Geschichte – ach, ja?«
    Ihre Worte machten ihm klar, dass er sich wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten hatte.
    Noch so eine unbedachte Äußerung und er würde keine einzige Silbe mehr aus ihr herausbekommen. Die Vorstellung verursachte ihm Unbehagen, auch wenn er selbst nicht wusste, warum. Obwohl er Elena Dierks erst seit wenigen Minuten kannte, ging irgendetwas von ihr aus, dem er sich nur schwer entziehen konnte. Als ihre Blicke sich erneut begegneten, glaubte er, in ihren Augen eine tiefe Trauer und Verletzlichkeit zu erkennen. Man musste kein Psychologe sein, um herauszufinden, dass der Verlust ihres Kindes sich wie ein dunkler Schatten auf ihre Seele gelegt hatte. Genauso hatte sich Henning nach dem Tod seiner Frau gefühlt. Schon deshalb konnte er gut nachvollziehen, wie es in Elena aussehen musste. Für einen Moment lang blitzte das Bildnis seiner verstorbenen Frau am Rande seines Bewusstseins auf. Auch wenn sie zum Zeitpunkt ihres Todes längst kein Kind mehr gewesen war, änderte das nichts am Schmerz, den ihre Mutter verspürt haben musste. Von seinen Erinnerungen überwältigt, sah er sich am Grab seiner Frau stehen.
    Das Geräusch von Schritten, die sich vom Gang her näherten, brachte ihn schlagartig in die Realität zurück und machte ihm seine wie unter einer schweren Last nach vorn gebeugte Haltung bewusst. Kein Wunder, dass er sich plötzlich viel älter fühlte, als er in Wirklichkeit war. Als ihre Blicke sich begegneten, ging ein Ruck durch seine zusammengesunkene Gestalt. War da
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